Titel

VG Lüneburg, Beschluss vom 11.12.2020, Az. 5 B 63/20


Fahrräder auf Fernstrassen!

 


Zitiervorschlag: VG Lüneburg, Beschluss vom 11.12.2020, Az. 5 B 63/20, zitiert nach POR-RAV


Beschluss noch nicht rechtskräftig!
Letzte Bearbeitung: 22.02.2021, 21:19

Teaser



Bundesfernstrassen sind keine "versammlungsfreien" Räume

Leitsatz



1. Der Veranstalter entscheidet über Gegenstand, Zeitpunkt und Ort der Versammlung sowie über die Art und Weise der Durchführung.

2. Fahrraddemos sind auch auf Bundesstrassen zulässig.

Volltext

TENOR

1. Die aufschiebende Wirkung der noch zu erhebenden Klage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 9. Dezember 2020 wird wiederhergestellt.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

2. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 2.500,00 EUR festgesetzt.

GRÜNDE

Der Antragsteller wendet sich im vorliegenden Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gegen eine versammlungsrechtliche Beschränkung der Antragsgegnerin vom 9. Dezember 2020, mit der ihm untersagt wird, im Rahmen einer Fahrraddemonstration am 12. Dezember 2020 einen Teil der Bundesstraße 84/8209 zu befahren.

Der Antrag hat Erfolg.

Er ist zulässig als Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO. Entfaltet ein Rechtsbehelf wegen einer behördlichen Anordnung des Sofortvollzuges nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO keine aufschiebende Wirkung, kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 2. Alt. VwGO wiederherstellen. Der Antrag ist gemäß § 80 Abs. 5 Satz 2 VwGO schon vor Erhebung der Anfechtungsklage zulässig. Die Klageerhebung gegen den streitgegenständlichen Bescheid steht dem Antragsteller weiter offen, da die Klagefrist aus§ 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO von einem Monat nach Bekanntgabe des Bescheides vom 9. Dezember 2020 noch nicht abgelaufen ist.

Das Gericht stellt die aufschiebende Wirkung der - ggf. noch zu erhebenden – Klage gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 2. Alt. VwGO wieder her, wenn das Interesse des Adressaten, von der Vollziehung einer Maßnahme vorläufig verschont zu bleiben, das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung überwiegt. Dies ist in der Regel der Fall, wenn sich der angefochtene Verwaltungsakt bei der im Eilverfahren allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung als rechtswidrig darstellt. Denn an der Vollziehung eines rechtswidrigen Verwaltungsakts besteht kein öffentliches Interesse. Ist der Verwaltungsakt hingegen rechtmäßig, so überwiegt regelmäßig das öffentliche Interesse an seiner sofortigen Vollziehung.

Das Aussetzungsinteresse des Antragstellers überwiegt das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der beschränkenden Verfügung, denn die angefochtene Verfügung der Antragsgegnerin vom 9. Dezember 2020 ist nach gebotener und im Eilverfahren nur möglicher summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage voraussichtlich rechtswidrig.

Rechtsgrundlage für versammlungsrechtliche Beschränkungen ist § 8 Abs. 1 NVersG. Danach kann die zuständige Behörde eine Versammlung unter freiem Himmel beschränken, um eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren. Eine Beschränkung liegt dabei immer dann vor, wenn allein die Modalitäten der Durchführung der Versammlung, insbesondere in zeitlicher oder örtlicher Hinsicht, beschränkt werden.

Der Erlass einer versammlungsrechtlichen Beschränkung setzt voraus, dass im Zeitpunkt, des Erlasses einer solchen Verfügung Umstände vorliegen, die eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit mit hoher Wahrscheinlichkeit erwarten lassen. Dabei muss sich die behördliche Gefahrenprognose auf nachweisbare Tatsachen stützen; bloße Vermutungen reichen insoweit nicht aus (vgl. BVerfG, Beschl. v. 21.04.1998 - 1 BvR 2311/94 -; Nds. OVG, Urt. v. 29.05.2008 - 11 LC 138/06 -, jew. zit. nach juris). Bereits durch das Erfordernis der „Unmittelbarkeit" ist eine erhöhte Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts erforderlich und sind strengere Anforderungen an die Sicherheit der Tatsachenbasis und den Grad der Wahrscheinlichkeit zu stellen als im allgemeinen Polizeirecht (vgl. VG Hannover, Urt. v. 18.03.2015 - 10 A 5677/12 - V. n. b.; Wefelmeier in: Wefelmeier/ Miller, NVersG, 2012, § 8 Rn. 24 m. w. N.).

Die „öffentliche Sicherheit" im Sinne von§ 8 Abs. 1 NVersG umfasst den Schutz zentraler Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit, Freiheit, Ehre, Eigentum und Vermögen des Einzelnen sowie die Unversehrtheit der Rechtsordnung und der staatlichen Einrichtungen, wobei in der Regel eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit angenommen wird, wenn eine strafbare Verletzung dieser Schutzgüter droht (vgl. BVerfG, Beschl. v. 14.05.1985-1 BvR233/81, 1 BvR341/81-, BVerfGE69, 315; Nds. OVG, Urt. v. - 29.05.2008 - 11 LC 138/06 -, Nds. VBI. 2008, 283; Wefelmeier in: Wefelmeier/Miller, NVersG, 2012, § 8 Rn. 17).

Die Tatbestandsvoraussetzungen des§ 8 Abs. 1 NVersG sind im Lichte der Versammlungsfreiheit auszulegen. Es· ist dabei der besonderen Bedeutung der Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG) sowie des Rechts auf freie Meinungsäußerung (Art. 5 GG) Rechnung zu tragen. Die Versammlungsfreiheit umfasst das Selbstbestimmungsrecht des Veranstalters, über Gegenstand, Zeitpunkt und Ort der Versammlung sowie über die Art und Weise der Durchführung zu entscheiden. Unter Berücksichtigung der grundlegenden Bedeutung der Versammlungsfreiheit im demokratischen Gemeinwesen setzt ihre Beschränkung, wenn grundrechtlich geschützte Rechtsgüter betroffen bzw. gefährdet sind, die Herstellung einer praktischen Konkordanz zwischen diesen voraus. Das Prinzip der praktischen Konkordanz besagt, dass verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgüter bei Kollisionen einander so zuzuordnen sind, dass allen in dem jeweils notwendigen Umfang Grenzen gezogen sind, alle aber auch optimal· wirksam bleiben. Kollidierende Grundrechtspositionen sind hierfür in ihrer Wechselwirkung zu erfassen und nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz so in Ausgleich zu bringen, dass sie für alle Beteiligten möglichst weitgehend wirksam werden (vgl. BVerfG, Beschl. v. 11.04.2018 - 1 BvR 3080/09 -; VG Karlsruhe, Beschl. v. 27:03.2019 - 2 K 1979/19 - m. w. N., jew. zit. nach juris).

Die rechtlichen Voraussetzungen des § 8 Abs. 1 NVersG für die vorgenommene und vorliegend angegriffene örtliche Beschränkung der angezeigten Versammlung sind jedoch nicht erfüllt; die mit Bescheid vom 9. Dezember 2020 von der Antragsgegnerin verfügte örtliche Beschränkung der Versammlung stellt vielmehr eine rechtswidrige Beschränkung der durch Art. 8 Abs. 1 GG geschützten· Versammlungsfreiheit des Antragstellers dar.

Da ein generelles Verbot zum Befahren der Bundesstraße seitens der Antragsgegnerin ausgesprochen wurde, steht der Umstand, dass eine weitere Kooperation seitens des Antragstellers nicht stattgefunden hat, dem Begehren nicht entgegen.

Das Thema der Versammlung:

„Fahrrad fahr'n statt Autobahn - 5 Jahre Pariser Abkommen: Good Bye 2°-Ziel: motorisierten Individualverkehr abschaffen, A49 rückbauen und umwidmen: Platz für Menschen statt für Autos - Fahrraddemo in Solidarität mit dem Dannenröder Forst am 5. Jubiläum des Pariser Klimaschutzabkommens"

steht in einem thematischen Zusammenhang mit der Bundesstraße. Es ist allein Sache des Veranstalters, im Rahmen des ihm zustehenden Selbstbestimmungsrechts darüber zu befinden, in welcher Weise er das mit der Veranstaltung verfolgte Ziel verwirklichen möchte. Es existieren keine straßen- oder straßenverkehrsrechtlichen Bestimmungen, aus denen sich ein generelles Verbot zur Nutzung von Bundesfernstraßen zu Versammlungszwecken herleiten ließe (vgl. ausführliche Begründung zur Fahrraddemonstration· auf einer Bundesautobahn HessVGH, Beschl. v. 31.07.2008 - 6 B 1629/08 -, juris). Zwar dienen Bundesfernstraßen wegen ihres eingeschränkten Widmungszweckes grundsätzlich dem Fahrzeugverkehr und somit anders als andere öffentliche Verkehrsflächen nicht der Kommunikation, sie sind jedoch nicht generell ein „versammlungsfreier Raum" (vgl. HessVGH, Beschl. v. 30.10.2020 - 2 B 2655/2 -, Beschl. v. 31.07.2008 – 6 B 1629/08 -; OVG NRW, Beschl. v. 03.11 .2017 - 15 B 1370/17 -, jeweils zitiert nach juris). Soweit die Antragsgegnerin auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Februar 2011 unter dem Aktenzeichen 1 BvR 66/06 (gemeint wohl 1 BvR 699/06, juris) verweist, führt diese Entscheidung zu keinem anderen Ergebnis, da es bei dieser Entscheidung um die Frage der Versammlung auf einem Flughafengelände geht.

Die Untersagung der Nutzung des Abschnitts auf der Bundesstraße 84/8209 rechtfertigt sich nicht dadurch, dass das Ziel der Versammlung auch mit einer anderen – nicht über die Bundesstraße führenden Strecke - erreicht werden könnte. Es ist allein Sache · des Veranstalters, im Rahmen des ihm zustehenden Selbstbestimmungsrechts darüber zu befinden, in welcher Weise er das mit der Veranstaltung verfolgte Ziel verwirklichen möchte. Auch wenn die kurzfristige Inanspruchnahme einer Kraftfahrstraße für eine Versammlung mit notwendigen umfangreichen Sicherungsmaßnahmen und nicht unerheblichen Verkehrsbehinderungen verbunden sein kann, die sich insbesondere durch Staubildung bemerkbar machen, handelt es sich hierbei um Einschränkungen, die mit einer solchen Versammlung regelmäßig einhergehen und hinzunehmen sind, da ansonsten die Gestaltungsfreiheit hinsichtlich des Versammlungsortes unzulässig beschränkt würde (vgl. HessVGH, Beschl. v. 31.07.2008 - 6 B 1629/08 -, a.a.O.). Es würde eine nicht hinnehmbare Einschränkung der Versammlungsfreiheit darstellen, wenn der Anmelder einer Versammlung stets den Ort für seine Versammlung wählen müsste, der für Dritte die geringsten versammlungstypischen Einschränkungen mit sich bringt.

Ob es für den Zweck der Versammlung unabdingbar ist, an dem vom Anmelder angegebenen Ort die Versammlung durchzuführen oder ob auch ein anderer Ort dem Versammlungszweck in gleicher Weise dienen würde, obliegt nicht in erster Linie der Prüfung durch die Versammlungsbehörde. Sofern es vorliegend unter Berücksichtigung ihres Zwecks für den Antragsteller notwendig erscheint, die Versammlung auf der Bundesstraße 84/8209 durchzuführen, ist dies von der Antragsgegnerin zunächst einmal hinzunehmen. Eine Veränderung der Route käme nach den oben gemachten Ausführungen erst dann in Betracht, wenn die mit der Durchführung der Versammlung verbundenen Einschränkungen für Dritte ein die Schwelle der bloßen Unannehmlichkeit überschreitendes Maß annehmen würde. Dies ist vorliegend bisher nicht ersichtlich.

Dem öffentlichen Interesse an der Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs kommt gegenüber der Versammlungsfreiheit des Antragstellers kein Vorrang zu. Es ist nicht erkennbar, dass das Befahren der Bundesstraße 84/8209 im Rahmen der Fahrraddemonstration am 12. Dezember 2020 über eine Strecke von bis zu 4,5 km eine solche Beschränkung der Versammlungsfreiheit rechtfertigt. Dass mit einer kurzfristigen Sperrung der Bundesstraße besondere Gefährdungen verbunden wären, denen nach Ausschöpfung an Ausweich- und Sicherungsmitteln sowie durch geeignete Auflagen an den Veranstalter nicht begegnet werden könnte, ist nicht ersichtlich.

Es ist am Wochenende bereits wegen des wegfallenden Berufsverkehrs generell mit einem geringeren Verkehrsaufkommen auf der 84/8209 zu rechnen als unter der Woche. Auch ist bei der geplanten Versammlung ab etwa 12:00 Uhr nicht mit einem erhöhten An- oder Abreiseverke.hr zu rechnen. Soweit die Antragsgegnerin auf den Ferienreiseverkehr verweist, ist dem entgegenzuhalten, dass zurzeit in keinem Bundesland Ferien sind und in Anbetracht der gegenwärtigen Situation der Corona-Pandemie eher mit geringem Fernreiseverkehr zu rechnen ist. Soweit die Antragsgegnerin auf eine erhöhte Unfallgefahr wegen einer erforderlich werdenden Sperrung hinweist, ist dies wegen des eher geringeren Verkehrsaufkommens nicht hinreichend dargelegt. Die Sperrung des in Rede stehenden Teilbereichs auf der Bundesstraße ist mit insgesamt 60 bis 90 Minuten auch überschaubar. Insbesondere wird nur in Fahrtrichtung Süden ein Teilbereich der Bundesstraße abgesperrt. Da auf diesem Abschnitt der Bundesstraße ohnehin eine Geschwindigkeitsbeschränkung besteht und nach den obigen Ausführungen mit keinem außergewöhnlich hohem Verkehrsaufkommen zu rechnen ist, erscheint auch eine nach Auffassung der Antragsgegnerin erforderliche temporäre Geschwindigkeitsbeschränkung von 50 km/h auf der Gegenfahrbahn hinnehmbar. Zudem hätte sich das ausgesprochene Verbot, die Fahrraddemonstration auf der Bundesstraße durchzuführen, gegebenenfalls mit einer entsprechenden Auflage - etwa eine Verkürzung der Fahrstrecke - vermeiden lassen können. Ein generelles Verbot jedenfalls ist rechtswidrig.

Auch die Einschränkungen in der Lüneburger Innenstadt gehen nicht über bloße Unannehmlichkeiten hinaus. Zwar handelt es sich bei dem Veranstaltungstag um einen Adventssamstag, an dem üblicherweise viel Verkehr in der Innenstadt herrscht, dieser dürfte wegen der gegenwärtigen Situation jedoch ebenfalls geringer ausfallen. Dies wird bereits dadurch deutlich, dass die Antragsgegnerin wegen des zu erwartenden zurückhaltenden Besuchs der Innenstadt attraktive Parkangebote zur Belebung der Innenstadt anbietet.

Die generelle Untersagung des Befahrens der Bundesstraße mit Fahrrädern ist auch nicht damit zu rechtfertigen, dass die Sperrung auf der Bundesstraße und die dadurch entstehende Verkehrslage in der Innenstadt Lüneburgs dazu führen würde, die ,,Hilfsfrist" für die Feuerwehr nicht mehr einhalten zu können. Dem ist entgegenzuhalten, dass Rettungsfahrzeugen im Falle eines Einsatzes ein Sonderrecht zusteht und sie dies auch zielbringend einsetzen können. Ausweislich der von der Antragsgegnerin vorgelegten Verwaltungsvorgänge (BI. 37) beziehen sich die Ausführungen der Feuerwehr nicht explizit auf die 84/8209, sondern generell auf „Hauptverkehrsstraßen". Zudem hat der Antragsteller seine Bereitschaft erklärt, eine Fahrbahn auf der Bundesstraße für Rettungsfahrzeuge freizuhalten.

Die Kostenentscheidung beruht auf§ 154 Abs. 1 VwGO.

Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf§§ 53 Abs. 2, 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Ziff. 45.4 des Streitwertkatalogs. Eine Halbierung des Streitwerts nach Ziff. 1.5 des Streitwertkatalogs war nicht vorzunehmen, da die Entscheidung im Eilverfahren die Entscheidung in der Sache vorwegnimmt.

Rechtsmittelbelehrung

Gegen den Beschluss zu 1) ist die Beschwerde statthaft…