Titel

VG Lüneburg, Urteil vom 28.02.2020, Az. 5 A 367/17
Rechtswidrigkeit des Verbots eines Banner-Transparents zwischen erkletterten Bäumen und des Festhaltens der Kletterer

 


Zitiervorschlag: VG Lüneburg, Urteil vom 28.02.2020, Az. 5 A 367/17, zitiert nach POR-RAV


Beschluss noch nicht rechtskräftig!
Letzte Bearbeitung: 20.03.2020, 14:32

Teaser

Das VG Lüneburg stellt fest, dass das Erklettern von Bäumen am Straßenrand in der Lüneburger Innenstadt als Vorbereitungshandlung einer versammlungsrechtichen Meinungskundgabe wegen der Typenfreiheit im Versammlungsrecht in den Schutzbereich dieser fällt. Das Vorliegen einer Ordnungswidrigkeit wegen Verstoßes gegen eine Verordnung der Hansestadt Lüneburg über die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (SOV) allein rechtfertigt im Lichte der Versammlungsfreiheit die Unterbindung der beabsichtigten Meinungskundgabe durch Verbot des Erkletterns und das Festhalten der Kletterer durch Polizeibeamte hingegen nicht. Das VG äußert sich auch zu seinem Verständnis des Versammlungsbegriff im NVersG und setzt entgegen von Stimmen in der Literatur nicht zwingend voraus, dass die Beteiligten im Versammlungsgeschehen einander zu jedem Zeitpunkt sehen können.

Leitsatz

[Es] wird festgestellt, dass das am 1. Juli 2017 in der Zeit von 18.30 Uhr bis etwa 20.00 Uhr von der Beklagten der Klägerin gegenüber mündlich angeordnete Verbot, den Baum in der Bardowicker Straße in Höhe des Hauses Nr. 28 zu erklettern, und das Festhalten der Klägerin rechtswidrig gewesen sind.

Volltext

5 A 367/17

In der Verwaltungsrechtssache

XXX

– Klägerin –

Prozessbevollmächtigter: XXX

gegen

Polizeidirektion Lüneburg, vertreten durch den Polizeipräsidenten, Auf der Hude 2, 21339 Lüneburg - 22.22 - 12205 - 20/17 -

– Beklagte –

wegen Feststellung der Rechtswidrigkeit polizeilicher Maßnahmen,

hat das Verwaltungsgericht Lüneburg - 5. Kammer - auf die mündliche Verhandlung vom 24. Februar 2020 durch die Vorsitzende Richterin am Verwaltungsgericht XXX, die Richterin am Verwaltungsgericht XXX, die Richterin XXX sowie die eh- renamtlichen Richterinnen XXX und XXX für Recht erkannt:

Das Verfahren wird eingestellt, soweit die Klägerin ihre Klage zurück- genommen hat.

Im Übrigen wird festgestellt, dass das am 1. Juli 2017 in der Zeit von 18.30 Uhr bis etwa 20.00 Uhr von der Beklagten der Klägerin gegenüber mündlich angeordnete Verbot, den Baum in der Bardowicker Straße in Höhe des Hauses Nr. 28 zu erklettern, und das Festhalten der Klägerin rechtswidrig gewesen sind.

Von den Kosten des Verfahrens haben die Klägerin 1/3 und die Be- klagte 2/3 zu tragen.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleis- tung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Be- trages abwenden, wenn nicht vor der Vollstreckung der jeweilige Voll- streckungsgegner Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstrecken- den Betrages leistet.

Tatbestand

Die Klägerin, französische Staatsangehörige, begehrt die Feststellung der Rechtswid-

rigkeit von polizeilichen Maßnahmen im Zuge des G 20 Gipfels in der Freien und Han- sestadt Hamburg.

Für Samstag, den 1. Juli 2017, wurde in Lüneburg in der Zeit von 18:00 bis 22:00 Uhr eine sich fortbewegende Versammlung der Gruppe „Lüneburger_innen gegen G 20“ unter dem Motto „G 20 Warm Up - Die Verhältnisse zum Tanzen bringen“ am 25. Ap- ril 2017 angezeigt. Die Versammlung sollte mit einer Auftaktkundgebung im Clamart- park beginnen und im späteren Verlauf auch durch die Bardowicker Straße führen. Für

die Zeit von 21:30 bis 22:00 Uhr war eine Abschlusskundgebung in der Lüner Straße bzw. am Alten Kran vorgesehen. Es sollten ausweislich der Anzeige als Hilfsmittel ein Handmegaphon, Fahnen und Transparente eingesetzt werden. Hiervon erhielt die Be- klagte am 26. April 2017 Kenntnis.

Daraufhin fand am 15. Juni 2017 im Rathaus der Hansestadt Lüneburg als Versamm- lungsbehörde unter Anwesenheit des Anmelders sowie Vertretern der Versammlungs- behörde und der Beklagten ein Kooperationsgespräch statt. Im Rahmen dieses Ge- sprächs wurde insbesondere besprochen, dass für den endgültigen Routenverlauf die tatsächliche Teilnehmerzahl maßgebend sei. Auch der Inhalt der Versammlung wurde erörtert, die Kletteraktion der Klägerin war dabei nicht Gegenstand des Kooperations- gesprächs.

Mit Bescheid vom 26. Juni 2017 bestätigte die Versammlungsbehörde gegenüber dem Anmelder die angezeigte Versammlung. Ausweislich des Bescheids sollte nach der Entscheidungs- und Gefahrenlage im Zeitpunkt der Zwischenkundgebung auf dem Marktplatz die Teilnehmerzahl festgelegt und anhand dieser der weitere Verlauf der

Seite 2/18 sich als Aufzug über mehrere Orte mit Zwischenkundgebungen erstreckenden Ver- sammlung bestimmt werden. Für die Aufzugroute wurden ab der Zwischenkundgebung am Marktplatz alternative Routenverläufe vorgesehen; die Verlaufsroute A sollte durch die Bardowicker Straße führen. Darüber hinaus erließ die Versammlungsbehörde ge- mäß § 8 Abs. 1 des Niedersächsischen Versammlungsgesetzes Beschränkungen für die Durchführung der Versammlung.

Am 1. Juli 2017 fand die angezeigte Demonstration in der Zeit von 18:00 bis 22:00 Uhr in Lüneburg statt. Gegen 18:33 Uhr wurde die Klägerin in Begleitung ihres Kletterpart- ners, des Klägers in dem Verfahren zum Aktenzeichen 5 A 369/17, von den Polizeikräf- ten am Alten Kran bemerkt. Zunächst nahmen die Einsatzkräfte an, dass eine Erklette- rung des Krans beabsichtigt sei.

Um 18:41 Uhr teilten die Einsatzkräfte dem Stab des Polizeiführers mit, dass es in der Bardowicker Straße zu einer Kletteraktion gekommen sei. Die Demonstration befand sich zu diesem Zeitpunkt in der Straße Am Berge. Bei Eintreffen der Einsatzkräfte der Beklagten in der Bardowicker Straße befand sich die Klägerin, die ein sichtbar aus ih- rem Rucksack herausragendes Transparent bei sich führte, auf Höhe des Hauses Nr. 28 an einem Baum in einer ungefähren Höhe von zwei Meter. Sie befand sich da- mit noch in Reichweite der Polizeibeamten, die sie am weiteren Klettern hinderten, in- dem sie diese abwechselnd an ihrem Kletterseil festhielten. Dabei ist zwischen den Be- teiligten im Einzelnen streitig, ob die Klägerin durch die ortsfremden Einsatzkräfte nach unten gezogen oder lediglich mit lockerem Griff festgehalten wurde. Sie forderten die Klägerin zunächst auf, sich auszuweisen. Eine Identitätsfeststellung wurde nicht durch- geführt, nachdem die Einsatzkräfte über die Identität der - der Beklagten bekannten - Klägerin informiert worden waren.

Derweil hatte der Kletterpartner der Klägerin auf der gegenüberliegenden Straßenseite ebenfalls einen Baum erklommen. Er befand sich bei Eintreffen der Einsatzkräfte au- ßerhalb der Reichweite der Polizeibeamten in drei bis vier Meter Höhe und trug ein Transparent mit der Aufschrift „System Change not Climate Change“ bei sich.

Im weiteren Verlauf erschien der Gesamteinsatzleiter der Beklagten PD XXX vor Ort, der die Klägerin sowie ihren Kletterpartner bat, den Baum hinab zu steigen, um mit ihnen ein Kooperationsgespräch zu führen; dies lehnten beide ab. Gegenüber der Klä- gerin, die weiterhin festgehalten wurde, ordnete er an, nicht am Baum, sondern nur auf dem Boden zu demonstrieren.

Nachdem diese über Schmerzen in ihren Beinen, Schwindelgefühle und Kreislaufprob- leme geklagt hatte, wurde von den Polizeibeamten der Rettungsdienst angefordert. Der

Seite 3/18

Klägerin, die ein Hinunterklettern wiederholt ablehnte, wurde auch eine Klappleiter zur Verfügung gestellt, auf die sie sich stützen konnte. Kurz darauf erschienen sogenannte „Demosanitäter“, die nach einem kurzen Gespräch mit der Klägerin die Einsatzkräfte baten, die Klägerin loszulassen, die sodann den Baum nicht weiter erkletterte. Auf die Anweisung des Truppführers wurde die Klägerin nicht weiter festgehalten. Die De- monstration passierte unterdessen den Einsatzort. Nachdem der Aufzug vorbeigezo- gen war und die Einsatzkräfte sich auf die Bitte der Klägerin unter Vermittlung des „De- mosanitäters“ zurückgezogen hatten, stieg sie gegen 20:04 Uhr von dem Baum ab. Ihr Kletterpartner kletterte, nach Absprache mit der Klägerin, ebenfalls herunter.

Die Klägerin und ihr Kletterpartner wurden durch die polizeiliche Maßnahme daran ge- hindert, mit Hilfe einer dritten Person am Boden ein Banner mit der Aufschrift „Dem Ka- pitalismus auf der Nase herum tanzen“ - wie geplant - gut sichtbar über der Demonst- rationsroute außerhalb des Regellichtraums zwischen den zwei Bäumen in der Bardo- wicker Straße aufzuhängen.

Der öffentliche Personennahverkehr war währenddessen in der Bardowicker Straße nicht gesperrt.

Die Klägerin hat am 3. Juli 2017 Klage erhoben.

Zur Begründung führt sie im Wesentlichen an, ihre Kletteraktion sei Teil der für den 1. Juli 2017 in Lüneburg angezeigten Demonstration gegen den G 20 Gipfel gewesen. Im Vorfeld habe sie sich gemeinsam mit ihrem Kletterpartner und einer weiteren Per- son bei der Auftaktkundgebung über den Routenverlauf der Demonstration informiert. Nachdem ihnen dort mitgeteilt worden sei, dass die Demonstration auch durch die Bar- dowicker Straße führen würde, seien sie mit ihren Fahrrädern dort hingefahren. Sie habe gemeinsam mit ihrem Kletterpartner und einer weiteren Demonstrantin beabsich- tigt, das Banner über der Bardowicker Straße außerhalb des Regellichtraums zu span- nen, so dass auch der „Lauti-Wagen“ des Demonstrationszuges ungehindert hätte pas- sieren können. Das Klettern sei ihre Protestform. Zudem seien „banner drops“ auf De- monstrationen üblich. Die Person auf dem Boden habe lediglich wenige Minuten wäh- rend des Spannens des Banners auf den Verkehr achten sollen. Zudem sei die ausge- wählte Straße verkehrsarm gewesen und die Geschwindigkeit des Verkehrs an diesem Samstagabend aufgrund der die Fahrbahn überquerenden Fußgänger ohnehin einge- schränkt gewesen. Aufgrund ihrer Erkrankung, sie leide an Arthritis, sei sie nicht in der Lage gewesen, mit der Demonstration selbständig mitzulaufen. Das Klettern hingegen bereite ihr weniger Schmerzen. Durch das Festhalten der Einsatzkräfte habe sie an Schmerzen in den Beinen gelitten. Eine anwesende Polizistin habe nur leicht an dem

Seite 4/18

sog. „Cowtail“ gezogen, sodass sie in der Lage gewesen sei, ihr Bein zwischendurch zu entlasten. Ein anderer Polizeibeamter habe hingegen besonders stark an ihrem Gurt gezogen und sie verletzt. Dieser habe angemerkt, dass sie jederzeit herunterklet- tern könne, wenn das Festhalten ihr Schmerzen bereite. Sie habe aufgrund der Zwangseinwirkung erhebliche Kreislaufprobleme erlitten (Atemnot, Panik, Erbrechen, Schwindel und Taubheitsgefühl in den Beinen). Diese Symptome würden auf ein soge- nanntes Hängetrauma hinweisen. Ein Herunterklettern sei ihr aber nicht möglich gewe- sen, da sie mit einem Klemmknoten gesichert gewesen sei, der sich aufgrund der Be- lastung auch festgezogen habe. Da die Polizisten ihre Fußschlinge festgehalten hätten, sei sie nicht in der Lage gewesen, ihre Beine zu entlasten. Sie habe auch mehrfach versucht, sich dem Griff der Polizisten zu entziehen. Das Banner habe sie nicht auf- hängen können, sie habe aber ihre ebenfalls mitgebrachte Fahne schwenken können, als die Demonstration die Bardowicker Straße passiert habe.

Die Klage im Hinblick auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit der mündlich ausge- sprochenen Aufforderung sich auszuweisen hat die Klägerin in der mündlichen Ver- handlung zurückgenommen.

Die Klägerin beantragt nunmehr,

festzustellen, dass das am 1. Juli 2017 in der Zeit von 18.30 Uhr bis etwa 20.00 Uhr von der Beklagten der Klägerin gegenüber mündlich angeordnete Verbot, den Baum in der Bardowicker Straße in Höhe des Hauses Nr. 28 zu erklettern, und das Festhalten der Klägerin rechts- widrig waren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie trägt zur Begründung im Wesentlichen vor, die Klage sei als Fortsetzungsfeststel- lungsklage bereits unzulässig. Die Klägerin könne bereits kein besonderes Feststel- lungsinteresse geltend machen, insbesondere liege hier eine Wiederholungsgefahr nicht vor. Auch ein Rehabilitierungsinteresse der Klägerin sei nicht ersichtlich, da das polizeiliche Eingreifen für die Klägerin nicht zusätzlich einen diskriminierenden Inhalt habe, welcher ihrem Ansehen abträglich wäre und ihr Persönlichkeitsrecht hätte beein- trächtigen können. Vielmehr habe die Klägerin durch ihr Verhalten Anlass für die poli- zeilichen Maßnahmen gegeben. Zudem könne hier nicht von einem tiefgreifenden Grundrechtseingriff ausgegangen werden. Sie gehe davon aus, dass die Versammlung der Klägerin, bei der es sich um eine „eigene Versammlung in der Versammlung“ ge- handelt habe, im Moment des Besteigens der Bäume durch die Klägerin und ihres Klet- terpartners begonnen habe. Hiervon seien auch die Einsatzkräfte der Beklagten in der

Seite 5/18

Eintreffsituation ausgegangen. Das Unterbinden des weiteren Erkletterns des Baums durch das Festhalten der Klägerin an ihrem Kletterseil stelle sich als beschränkende Verfügung nach § 8 Abs. 1 des Niedersächsischen Versammlungsgesetzes (NVersG) dar, die durch Anwendung unmittelbaren Zwangs in rechtmäßiger Weise durchgesetzt worden sei. Die Beschränkung habe der Abwehr einer unmittelbaren Gefahr für die öf- fentliche Sicherheit gedient. Bereits durch die Verwirklichung der Ordnungswidrigkeit nach § 14 der Verordnung der Hansestadt Lüneburg über die Aufrechterhaltung der öf- fentlichen Sicherheit und Ordnung (SOV) habe eine Gefahr für das Schutzgut des Stra- ßenbegleitbaums als öffentliche Einrichtung im Sinne von § 4 SOV unmittelbar vorgele- gen. Das Klettern auf Straßenbäume sei verboten und nicht vom Gemeingebrauch ge- deckt; sie würden Schatten spenden, das Stadtbild verschönern und zu einem guten Luftklima der Stadt beitragen. Durch das Klettern könnten Äste abbrechen und der Baum Schaden nehmen. Darüber hinaus habe eine Gefahr durch eventuell abbre- chende Äste für Passanten oder parkende Autos bestanden. Ferner stelle ein zu tief- hängendes Banner eine Gefahr für die Sicherheit und Leichtigkeit des fließenden Stra- ßenverkehrs dar. Es müsse sichergestellt sein, dass das Lichtraumprofil in der erfor- derlichen Höhe frei bleibe. Da der öffentliche Personennahverkehr an dem Samstag im Einvernehmen mit dem Versammlungsleiter und der Versammlungsbehörde auf der Bardowicker Straße nicht gesperrt gewesen sei, sei ein Kooperationsgespräch jedoch dringend erforderlich gewesen. Ein zu tiefhängendes Banner könne im Übrigen gegen § 5 Abs. 1 SVO verstoßen. Diese Belange hätten in einem der Klägerin angebotenen Kooperationsgespräch erörtert werden können. Die ihr gegenüber ausgesprochene An- ordnung, jedenfalls nicht höher zu klettern, stelle ein geeignetes und erforderliches Mit- tel zur Gefahrenabwehr dar. Im Rahmen der Ermessensentscheidung sei berücksich- tigt worden, dass es sich um eine eigenständige „spontane“ Versammlung gehandelt habe. Eine Beschädigung des Baums habe so verhindert werden können, da sich die Klägerin am stabilsten Teil des Baums, mithin am Stamm befunden habe. Sie habe dort auch ihr Transparent schwenken, mit anderen Personen ungehindert in Interaktion treten und ihre Meinung kundtun können. Nur auf diese Weise habe verhindert werden können, dass ein Transparent in den Regellichtraum ragen würde. In Anbetracht der anwachsenden Anzahl von Zuschauern habe die Polizei das ordnungswidrige Verhal- ten der Klägerin auch nicht dulden können. Die Klägerin habe ihr Grundrecht auf Ver- sammlungsfreiheit frei ausüben können. Im Übrigen habe sich der tatsächliche Routen- verlauf erst zum Zeitpunkt der Zwischenkundgebung auf dem Marktplatz entschieden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen.

Seite 6/18

Entscheidungsgründe

I. Das Verfahren ist gemäß § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen gewesen, soweit die Klägerin ihre Klage hinsichtlich der Feststellung der Rechtswidrigkeit der mündlich aus- gesprochenen Aufforderung, sich auszuweisen, zurückgenommen hat.

II. Die Klage im verbliebenen Umfang ist zulässig und begründet. Das gegenüber der Klägerin mündlich ausgesprochene Verbot, den Baum zum Zwecke des Demonstrie- rens zu erklettern, war rechtswidrig und verletzte die Klägerin daher in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO) (1.). Ebenso war das Festhalten der Klägerin rechtswidrig (2.).

1. a) Die Klage ist als Fortsetzungsfeststellungsklage analog § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO statthaft und auch im Übrigen zulässig, da das von der Klägerin beanstandete mündliche Verbot, den Baum zum Zwecke des Demonstrierens zu erklettern, als Ver- waltungsakt zu qualifizieren ist (§ 35 VwVfG) und sich bereits vor Klageerhebung in tat- sächlicher Hinsicht erledigt hat.

Der Klägerin steht auch das erforderliche berechtigte Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der angegriffenen Maßnahme zu. Ein Fortsetzungsfeststellungsinte- resse besteht unter anderem dann, wenn die angegriffene Maßnahme die Versamm- lungsfreiheit schwer beeinträchtigt, wenn die Gefahr der Wiederholung besteht oder wenn aus Gründen der Rehabilitierung ein rechtlich anerkennenswertes Interesse an der Klärung der Rechtmäßigkeit angenommen werden kann (vgl. BVerfG, Beschl. v. 03.03.2004 - 1 BvR 461/03 -, BVerfGE 110, 77; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 27.01.2015 - 1 S 257/13 -, juris; Kopp/Schenke, a.a.O., § 113 Rn. 136 ff. m.w.N.). Bei Maßnahmen, die sich typischerweise kurzfristig erledigen, gilt die Garantie des effektiven Rechts- schutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG für gewichtige Grundrechtseingriffe (vgl. BVerfG, Be- schl. v. 03.03.2004 - 1 BvR 461.03 -, juris, Orientierungssatz 2c) sowie für einfach- rechtliche Rechtsverletzungen, die - von der allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG abgesehen - kein Grundrecht tangieren, und für weniger schwerwiegende Eingriffe in Grundrechte und Grundfreiheiten (vgl. Nds. OVG, Urt. v. 14.01.2020 - 11 LB 464/18 -, juris, Rn. 27). Das berechtigte Feststellungsinteresse geht dabei über das bloße Interesse an der Klärung der Rechtswidrigkeit der Verfügung hinaus; dies gilt ge- rade unabhängig von der Intensität des erledigten Eingriffs und vom Rang der Rechte, die von ihm betroffen waren (BVerwG, Urt. v. 16.05.2013 - 8 C 38.12 -, juris, Rn. 19).

Wenn und soweit sich die Kurzfristigkeit der Maßnahme aus der Eigenart der Maß- nahme selbst ergibt und der Betroffene gerade aufgrund dieser Kurzfristigkeit ansons-

Seite 7/18

ten keinen Rechtsschutz erlangen kann, verlangt das Gebot des effektiven Rechts- schutzes, dass der Betroffene die ihn belastende Maßnahme unabhängig von der Schwere des damit verbundenen Rechtseingriffs in einem gerichtlichen Hauptsache- verfahren überprüfen lassen kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.05.2013 - 8 C 38.12 -, juris, Rn. 20 ff.; Nds. OVG, Urt. v. 14.01.2020 - 11 LB 464/18 -, juris, Rn. 27 m.w.N.).

Nach Maßgabe dessen liegt das berechtigte Interesse an der Feststellung der Rechts- widrigkeit des erledigten Verwaltungsakts im Hinblick auf die Rechtsverletzung der Klä- gerin aufgrund des Eingriffs in ihre Versammlungsfreiheit vor. Dem steht zunächst nicht entgegen, dass die Klägerin als französische Staatsangehörige in personeller Hinsicht vom Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG nicht erfasst ist (vgl. Maunz/Dürig, Grundge- setz-Kommentar, 88. EL August 2019, Rn. 110). Danach haben nur deutsche Staats- angehörige im Sinne von Art. 116 Abs. 1 GG das Recht, sich ohne Anmeldung oder Er- laubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln. Die Frage, ob Art. 8 Abs. 1 GG ent- gegen seinem klaren Wortlaut mit Blick auf das Unionsrecht - Art. 12 Abs. 1 EU-Grund- rechte-Charta gewährleistet die Versammlungsfreiheit - auch auf EU-Ausländer zu er- strecken ist, bedarf hier keiner Prüfung (vgl. hierzu krit. Sachs, Grundgesetz-Kommen- tar, 8. Aufl. 2018, Rn. 51 m.w.N.). Denn die Klägerin kann sich als EU-Ausländerin je- denfalls auf ihr betroffenes einfachrechtliches Versammlungsrecht nach § 1 Abs. 1 des Niedersächsisches Versammlungsgesetzes - NVersG - vom 7. Oktober 2010 (Nds. GVBl. S. 465) sowie auf Art. 11 Abs. 1, 1. Alt. EMRK berufen, der formell im Rang ei- nes Bundesgesetzes steht und im Wege der europarechtsfreundlichen Auslegung zu berücksichtigen ist (vgl. BVerfG, Beschl. v. 14.10.2004, BVerfGE 111, 307; Wefel- meier/Miller, NVersG, 2012, § 1, Rn. 18). Darüber hinaus ist die Klägerin auch in ihrer nach Art. 2 Abs. 1 GG als Jedermann-Grundrecht gewähreisteten allgemeinen Hand- lungsfreiheit betroffen, da sie durch die polizeiliche Maßnahme daran gehindert worden ist, als Teilnehmerin einer Versammlung das Klettern fortzusetzen und den von ihr ge- planten sogenannten „banner drop“ durchzuführen. Die zwischen den Beteiligten strei- tige Frage, ob die Klägerin dabei Teilnehmerin der für den 1. Juli 2017 angezeigten Versammlung im Sinne von § 2 NVersG oder einer eigenen (Spontan-)Versammlung war, bedarf an dieser Stelle keiner abschließenden Beurteilung. Die Kletteraktion der Klägerin, bei der es sich nach ihren eigenen Angaben um ihre besondere Protestform als Kletterkünstlerin handelt, ist jedenfalls von ihrer Versammlungsfreiheit als spezifi- sches Kommunikationsgrundrecht erfasst. Es gewährleistet auch die Befugnis zum Einsatz besonderer und ungewöhnlicher Ausdrucksmittel, wie hier des Kletterns und des Spannens von Transparenten zwischen den erklommenen Bäumen (vgl. Urt. d. Kammer v. 30.07.2014 - 5 A 87/13 -, juris, Rn. 26 m.w.N.). Die belastende polizeiliche

Seite 8/18

Anordnung hat sich hier auch typischerweise kurzfristig erledigt. Im Falle der Vernei- nung des Feststellungsinteresses wäre der Klägerin ein effektiver Rechtsschutz gegen die beanstandeten polizeilichen Maßnahmen versagt.

Im Übrigen bedurfte es aufgrund der vorstehenden Erwägungen keiner Entscheidung darüber, ob der Klägerin auch unter dem Gesichtspunkt der Wiederholungsgefahr ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse zukommt oder ihr ein solches aufgrund eines Reha- bilitierungsinteresses zusteht.

b) Die Klage ist auch begründet.

aa) Das gegenüber der Klägerin ausgesprochene Verbot, den Baum zu erklettern, kann hier nicht auf die Rechtsgrundlage des § 8 Abs. 1 NVersG gestützt werden. Da- nach kann die zuständige Behörde eine Versammlung unter freiem Himmel beschrän- ken, um eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuweh- ren. Zwar lag im Zeitpunkt der Prognoseentscheidung eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit vor, das als Beschränkung im Sinne der Vorschrift zu qualifizie- rende mündlich ausgesprochene Verbot war vorliegend aber nicht an den Veranstalter bzw. (faktischen) Versammlungsleiter adressiert und im Übrigen ermessensfehlerhaft.

Im Zeitpunkt des ausgesprochenen Verbots, den Baum zu erklettern, lag zunächst eine Versammlung im Sinne des § 8 Abs. 1 NVersG vor. Nach § 2 NVersG ist Versammlung im Sinne dieses Gesetzes eine ortsfeste oder sich fortbewegende Zusammenkunft von mindestens zwei Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gehören zur Versammlung auch solche Zusammen- künfte, bei denen die Versammlungsfreiheit zum Zwecke plakativer oder aufsehenerre- gender Meinungskundgabe in Anspruch genommen wird. Der Schutz ist nicht auf Ver- anstaltungen beschränkt, bei denen argumentiert und gestritten wird, sondern umfasst vielfältige Formen gemeinsamen Verhaltens bis hin zu nicht verbalen Ausdrucksfor- men. Auch geht es bei einer Versammlung darum, dass die Teilnehmer nach außen - schon durch die bloße Anwesenheit, die Art des Auftretens und des Umgangs mitei- nander oder die Wahl des Ortes - im eigentlichen Sinne des Wortes Stellung nehmen und ihren Standpunkt bezeugen (vgl. dazu BVerfG, Beschl. v. 07.03.2011 - 1 BvR 388.05 -, juris, Rn. 32; Beschl. v. 10.12.2010 - 1 BvR 1402.06 -, juris, Rn. 19; Beschl. v. 19.12.2007 - 1 BvR 2793.04 – juris, Rn. 14). Für die Frage, ob eine Versammlung vor- liegt, kommt es - anders als beim Gefahrenbegriff - nicht auf die ex-ante Sicht der han- delnden Polizisten, sondern auf die allein maßgeblichen objektiven Gegebenheiten an (vgl. Urt. d. Kammer v. 30.07.2014 - 5 A 87/13 -, juris, Rn. 37).

Seite 9/18

Nach Maßgabe dessen stellt sich das Handeln der Klägerin und ihres Kletterpartners als Teilnahme an dem für den 1. Juli 2017 angemeldeten Aufzug mit Kundgebungen dar, mittels derer die Teilnehmer ihre gemeinsame Überzeugung zeigen (vgl. Ullrich, NVersG, 2. Aufl. 2018, § 2, Rn. 25). Inhalt und Ziel der geplanten Meinungsäußerung gehen aus dem der angemeldeten Versammlung zugrundeliegenden Motto „G 20 Warm Up - Die Verhältnisse zum Tanzen bringen“ hervor. Nach ihren Ausführungen in der mündlichen Verhandlung ist es der Klägerin, die zunächst bei der Auftaktkundge- bung der Versammlung anwesend war, gerade darum gegangen, an der angemeldeten Demonstration teilzunehmen und sich an der öffentlichen Meinungsbildung zu beteili- gen, indem sie gemeinsam mit ihrem Kletterpartner die an der Aufzugstrecke in der Bardowicker Straße befindlichen Bäume erklettern und zwischen diesen ein Banner mit der Aufschrift „Dem Kapitalismus auf der Nase herum tanzen“ spannen wollte. Damit habe sie - gemeinsam mit den anderen Versammlungsteilnehmern - ihren allgemeinpo- litischen Protest gegen die (Umwelt-)Politik der an dem G 20 Gipfel teilnehmenden Staaten zum Ausdruck bringen wollen.

Die Kletteraktion stand entgegen der Auffassung der Beklagten auch in einem engen zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit der angezeigten Versammlung. Dem steht nicht entgegen, dass sich bei Beginn der Kletteraktion gegen 18:41 Uhr der Auf- zug noch nicht in der Bardowicker Straße befunden hatte und nach dem Vorbringen der Beklagten der spätere, tatsächliche Routenverlauf zu diesem Zeitpunkt noch nicht abschließend festgestanden habe. Ausweislich der versammlungsrechtlichen Bestäti- gung vom 26. Juni 2017 waren ab der Zwischenkundgebung auf dem Marktplatz alter- native Routen vorgesehen. Da der Versammlungsbegriff auch ein körperliches Zusam- mentreffen voraussetzt, verlangen Stimmen in der Literatur für einen räumlichen Zu- sammenhang zumindest, dass die Beteiligten einander noch sehen können (vgl. hierzu Ullrich, NVersG, 2. Aufl. 2018, § 2 Rn. 3). Zwar war im Zeitpunkt des Beginns der Klet- teraktion der Aufzug, der sich zu diesem Zeitpunkt noch in der Straße Am Berge befun- den hatte, offensichtlich nicht in Blickweite der Klägerin, die nach eigenen Angaben in Kenntnis der Verlaufsroute mit ihrem Fahrrad zum Zwecke der Vorbereitung ihrer Klet- teraktion in die Bardowicker Straße vorgefahren war. Maßgebend ist aber, dass der Aufzug tatsächlich gegen 20 Uhr durch die Bardowicker Straße - entlang der angemel- deten Aufzugsroute (Alternativroute A) führte - und dort die Klägerin in dem Zeitpunkt passierte, als das ihr gegenüber mündlich ausgesprochene Kletterverbot auch noch andauerte. Im Übrigen ist allgemein anerkannt, dass zudem alle Handlungen und Ver- haltensweisen, auch Vorbereitungshandlungen, die auf die Teilnahme an der - hier be- reits begonnen - Versammlung gerichtet sind, von der Versammlungsfreiheit geschützt sind (Dietel/Gintzel/Kniesel, Versammlungsgesetze, 18. Aufl. 2019, Teil I, Rn. 195). Die

Seite 10/18

Klägerin hat sich hier, gemeinsam mit ihrem Kletterpartner, zielgerichtet zum Zwecke der Vorbereitung ihres „banner drops“ nach eigenen Angaben in die Bardowicker Straße begeben, um ihre Teilnahme an der bereits mit der Auftaktkundgebung im Cla- mart-Park begonnen Versammlung fortzusetzen. In zeitlicher Hinsicht liegt ebenfalls ein enger Zusammenhang vor, da zwischen dem Beginn der Kletteraktion und dem Eintreffen des Aufzugs lediglich eine Stunde vergangen war und im Übrigen die Kletter- aktion und das beabsichtigte Spannen des Banners für eine Dauer angesetzt war, die mit Blick auf den kommunikativen Zweck der Versammlung eine ausreichende Kom- munikation, hier eine Unterstützung des Anliegens durch das Aufspannen des Banners und Schwenken der Fahne, mit den anderen Versammlungsteilnehmern des Aufzugs ermöglicht hätte (vgl. Ullrich, NVersG, 2. Aufl. 2018, § 2 Rn. 4).

Der Teilnahme an der angemeldeten Versammlung steht auch nicht entgegen, dass das Erklettern von Bäumen, das Schwenken von Transparenten und das Spannen ei- nes Banners zum Zwecke der gemeinsamen Meinungskundgabe eine besondere Pro- testform darstellt. Im Hinblick auf die Art und Weise der Ausgestaltung der Versamm- lung besteht Typenfreiheit (Urt. d. Kammer v. 30.07.2014 - 5 A 87/13 -, juris, Rn. 26 m.w.N.). Der Zeitgeist und die angestrebte mediale Aufmerksamkeit können ebenso wie der jeweilige Anlass der Veranstaltung zu innovativen Mitteln und Formen anhal- ten. Der Phantasie, Kreativität und Eigenwilligkeit bei der Wahl der Form der Mei- nungskundgabe sind im Hinblick auf den Versammlungsbegriff keine Grenzen gesetzt, sofern nur die eine Versammlung charakterisierenden Merkmale erkennbar bleiben. Maßgeblich hierfür ist, wie sich die Veranstaltung nach ihrem äußeren Erscheinungs- bild in ihrem Gesamtgepräge darstellt (vgl. zu alledem OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 02.05.2006 - OVG 1 B 4.05 -, juris, Rn. 29). Gemessen an dieser der Versammlungs- freiheit immanenten Typenfreiheit war sowohl das Erklettern des Baums als auch der beabsichtigte sogenannte „banner drop“, der einen Vorgang bezeichnet, bei dem ein Banner als Protesttaktik eingesetzt wird, eine eigene von § 2 NVersG umfasste Pro- testform. Dass die Kletteraktion und der geplante „banner drop“ weder angezeigt wor- den noch Bestandteil des Kooperationsgesprächs sowie der versammlungsrechtlichen Bestätigung gewesen sind, steht dem nicht entgegen. Das Erklettern von Straßenbäu- men sowie das Aufspannen eines Banners war nach der versammlungsrechtlichen Be- stätigung vom 26. Juni 2017 auch nicht verboten, vielmehr wurde darin ausdrücklich auf die Verwendung von Fahnen und Transparenten als Hilfsmittel und mitgeführte Ge- genstände der Versammlung hingewiesen.

Damit hat es sich bei der Kletteraktion weder um eine (eigene) „Versammlung in der Versammlung“ noch um eine Spontanversammlung gehandelt.

Seite 11/18

Das der Klägerin als Teilnehmerin einer angemeldeten Versammlung gegenüber aus- gesprochene Verbot ist rechtswidrig gewesen.

Als Teilnehmerin der für den 1. Juli 2017 angemeldeten Demonstration kommt die Klä- gerin schon nicht als Adressatin einer Beschränkung nach § 8 Abs. 1 NVersG in Be- tracht. Vorrangig ist Adressat versammlungsbehördlicher Verfügungen nach § 8 NVersG der Veranstalter, der die aus der Beschränkung folgenden Pflichten zu beach- ten und zu erfüllen hat, oder der von dem Veranstalter eingesetzte Versammlungslei- ter, der nach Beginn einer Versammlung Adressat einer beschränkenden Verfügung sein kann. Teilnehmerbezogene Verfügungen müssen gegen den Veranstalter mit der Maßgabe erfolgen, dass sie gegenüber den potentiellen Teilnehmern bekannt zu ma- chen sind (Ullrich, NVersG, 2. Aufl. 2018, § 8 Rn. 167). Dies ist hier ersichtlich nicht der Fall gewesen.

Im Übrigen lagen die Eingriffsvoraussetzungen einer Beschränkung zwar vor, sie war aber jedenfalls im Lichte der Versammlungsfreiheit nicht gerechtfertigt.

Eine unmittelbare Gefahr für das Schutzgut der öffentlichen Sicherheit im Sinne des § 8 Abs. 1 NVersG war gegeben.

Der Begriff der öffentlichen Sicherheit umfasst im Versammlungsrecht - ebenso wie im allgemeinen Polizeirecht - den Schutz zentraler Rechtsgüter des Einzelnen, wie etwa Leben und Gesundheit, sowie die Unversehrtheit der Rechtsordnung und der staatli- chen Einrichtungen. Grundsätzlich wird dabei das Vorliegen einer Sachlage vorausge- setzt, bei der im einzelnen Fall die hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, dass in absehbarer Zeit ein Schaden für die öffentliche Sicherheit und Ordnung eintritt (vgl. § 2 Nr. 1 lit. a Nds. SOG). Das in § 8 Abs. 1 NVersG zusätzlich enthaltene Merkmal der Unmittelbarkeit führt dazu, dass die Anforderungen an die Sicherheit der Beurteilungs- grundlage und den Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts erhöht werden, es bedarf nicht lediglich einer hinreichenden, sondern einer hohen Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts (vgl. zu § 15 VersG: BVerfG, Beschl. v. 19.12.2007 - 1 BvR 2793.04 -, juris, Rn. 20; vgl. ferner Wefelmeier/Miller, NVersG, 2012, § 8, Rn. 24). Der Schadenseintritt muss „fast mit Gewissheit“ zu erwarten sein (ebenfalls zu § 15 VersG: BVerwG, Urt. v. 25.06.2008 - 6 C 21.07 -, juris, Rn. 14). Als Grundlage der Gefahren- prognose sind konkrete und nachvollziehbare tatsächliche Anhaltspunkte erforderlich; bloße Vermutungen reichen nicht aus (vgl. dazu BVerfG, Beschl. v. 19.12.2007 - 1 BvR 2793.04 -, juris, Rn. 20).

Seite 12/18

Bei einer verständigen Betrachtung durch einen Polizeibeamten ex ante lagen in dem vorliegenden Fall konkrete Hinweise auf eine von der Versammlung ausgehende Ge- fährdung für das Schutzgut der Unverletzlichkeit der Rechtsordnung vor. Die Polizeibe- amten gingen zutreffend von der Verwirklichung einer Ordnungswidrigkeit gemäß § 14 Nr. 2 der Verordnung der Hansestadt Lüneburg über die Aufrechterhaltung der öffentli- chen Sicherheit und Ordnung (SOV) aus. Danach handelt ordnungswidrig, wer vorsätz- lich oder fahrlässig gegen Vorschriften über den Schutz öffentlicher Einrichtungen ge- mäß § 4 SOV zuwiderhandelt. Vorliegend hatte die Klägerin durch das Erklettern des Straßenbaums gegen das Verbot nach § 4 Abs. 1 lit. c SOV verstoßen. Unerheblich dabei ist, dass eine Beschädigung des erkletterten Baums nicht erkennbar war. Da der von der Klägerin erklommene Baum auch in ungefährer Höhe von drei Meter schon keine Äste aufwies, war im Übrigen der Vortrag der Beklagten, es habe zudem die Ge- fahr für Passanten oder parkende Autos durch herunterfallende Äste bestanden, nicht überzeugend.

Soweit die Beklagte ferner auf eine Gefährdung für die Gesundheit der Klägerin ab- stellte, war eine tatbestandsmäßige Gefahr indes nicht festzustellen. Bei der Klägerin handelt es sich um eine erfahrene Kletterkünstlerin, die daher mit dem nötigen Können den Baum unter Ausschluss eines erhöhten Risikos für ihre eigene körperliche Unver- sehrtheit erklimmen konnte; dies ist der Beklagten auch hinreichend bekannt.

In dem maßgeblichen Zeitpunkt der Prognoseentscheidung lag eine unmittelbare Ge- fahr für die Sicherheit und Leichtigkeit des Straßenverkehrs nicht vor. Wegen der Be- sonderheiten der Verkehrsführung in dem fraglichen Bereich, die dazu führt, das er- höhter Durchgangsverkehr samstags am frühen Abend in der Regel nicht stattfindet, bestand die Gefahr eines „fast mit Gewissheit“ zu erwartenden Schadenseintritts we- gen der Kletteraktion und des geplanten Spannens des Banners nicht. Denn der flie- ßende Verkehr, einschließlich des öffentlichen Personennahverkehrs mit Bussen, war wegen der geplanten Route des Aufzugs und der damit verbundenen Behinderungen des Verkehrs bereits Einschränkungen unterworfen. Um den - hier ohnehin stark ver- langsamten - Straßenverkehr nicht zu gefährden, wären die Polizeibeamten in der Lage gewesen, den Verkehr vom Boden aus zu regeln und ggf. die Einhaltung eines Mindestabstands des Banners zur Fahrbahn zum Zwecke der Durchlässigkeit des Bus- verkehrs (Regellichtraum) durch entsprechende Anordnungen gegenüber der Klägerin und ihrem Kletterpartner auch sicherzustellen.

Die beanstandete Maßnahme war auch ermessensfehlerhaft und insbesondere nicht verhältnismäßig.

Seite 13/18

Die Entscheidung über die beschränkende Verfügung im Sinne von § 8 Abs. 1 NVersG steht in dem Entschließungs- und Auswahlermessen der Behörde. Die hier streitbefan- gene Ermessensentscheidung der Beklagten kann das Gericht nur eingeschränkt da- raufhin überprüfen, ob sie die gesetzlichen Grenzen ihres Ermessens überschritten hat und ob sie von ihrem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entspre- chenden Weise Gebrauch gemacht hat (§ 114 Satz 1 VwGO). Die Beklagte hat hier die Grenzen ihres Ermessens überschritten, da sie den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht gewahrt hat, wonach die beschränkende Verfügung zur Abwehr der unmittelbaren Gefahr geeignet, erforderlich und angemessen sein muss. Die Angemessenheit erfor- dert eine Rechtsgüterabwägung; die Versammlungsfreiheit hat nur dann zurückzutre- ten, wenn dies zum Schutz anderer gleichwertiger Rechtsgüter erforderlich ist. Bei der Interessenabwägung ist sowohl der Grad der Eintrittswahrscheinlichkeit des Schadens als auch das Gewicht des zu schützenden Rechtsguts einzubeziehen (dazu im Ganzen Wefelmeier/Miller, NVersG, 2012, § 8, Rn. 30). Gemessen daran hat die Beklagte im Rahmen der Güterabwägung das für die freiheitlich demokratische Grundordnung überaus bedeutsame Recht auf Versammlungsfreiheit der Klägerin nicht hinreichend gewichtet. In Anbetracht des hohen Rangs der Versammlungsfreiheit der Klägerin ver- mag das Schutzgut der öffentlichen Sicherheit in Form von §§ 4 Abs. 1c,14 Nr. 2 SOV als materielles Gesetz zum Schutz der öffentlichen Einrichtung des Straßenbegleit- baums den schwerer wiegenden Eingriff in die Versammlungsfreiheit nicht zu rechtferti- gen. Die Beschränkung war nicht zum Schutze gleichwertiger Rechtsgüter erforderlich und angemessen, zumal der von der Klägerin erkletterte Baum keinen Schaden ge- nommen und ein solcher Schadenseintritt auch nicht gedroht hatte. Demgegenüber wurde die Klägerin in der Ausübung ihrer Rechte auf Versammlungsfreiheit und öffent- liche Meinungskundgabe erheblich beeinträchtigt, da sie weder den Baum weiter er- klettern noch das Banner gemeinsam mit ihrem Kletterpartner spannen konnte, um ihre Meinung frei kundzutun.

bb) Die beanstandete Anordnung kann auch nicht auf die Ermächtigungsgrundlage des § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 NVersG gestützt werden.

Danach kann die zuständige Behörde die Maßnahmen treffen, die zur Abwehr erhebli- cher Störungen der Ordnung der Versammlung durch teilnehmende Personen erforder- lich sind. Mit dieser Ermächtigungsgrundlage hat der niedersächsische Gesetzgeber die Möglichkeit zum Erlass von Anordnungen geschaffen, die sich gegen einzelne Ver- sammlungsteilnehmer und nicht gegen die Versammlung als Ganzes richten, mit der Folge, dass erhebliche Störungen der Ordnung der Versammlung bereits unterhalb der Schwelle der Versagung der Teilnahme an der Versammlung oder des Ausschlusses

Seite 14/18

von dieser unterbunden werden können (vgl. Nds. OVG, Urt. v. 11.06.2018 - 11 LC 147/17 -, juris, Rn. 44; Wefelmeier/Miller, NVersG, 2012, § 10, Rn. 12).

Die Klägerin hat durch ihr Verhalten die Ordnung der Versammlung, an der sie teilge- nommen hat, nicht erheblich gestört. Unter den Begriff „Störung“ fällt auch die Missach- tung einer versammlungsrechtlichen Beschränkung nach § 8 Abs. 1 NVersG (vgl. Nds. OVG, Urt. v. 11.06.2018 - 11 LC 147/17 -, juris, Rn. 45). Nach den vorstehenden Erwä- gungen stellt sich die mündlich ausgesprochene Verbotsverfügung jedoch nicht als rechtmäßige Beschränkung nach § 8 Abs. 1 NVersG dar, gegen die die Klägerin ver- stoßen haben könnte. Darüber hinaus hat diese auch nicht gegen eine - bestandskräf- tige - Beschränkung der angemeldeten Versammlung verstoßen, da ausweislich der versammlungsrechtlichen Bestätigung vom 26. Juni 2017 ein Verbot betreffend das Er- klettern von Straßenbäumen sowie das Aufspannen eines Banners gerade nicht gere- gelt worden ist. Die versammlungsrechtliche Bestätigung enthält vielmehr den aus- drücklichen Hinweis auf die Hilfsmittel und mitgeführten Gegenstände der Versamm- lung, worunter neben Megaphonen auch Fahnen und Transparente fielen.

cc) Als Rechtsgrundlage für das Verbot, den Baum zu erklettern, kommt auch nicht § 11 Nds. SOG in Betracht. Das NVersG geht dem Nds.SOG als lex specialis vor mit der Folge, dass auf die Bestimmungen des Nds.SOG gestützte Maßnahmen gegen eine Person unzulässig sind, solange diese sich in einer Versammlung befindet und sich auf die Versammlungsfreiheit berufen kann (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.12.2010 - 1 BvR 1402.06 -, juris, Rn. 28). Davon ist hier nach den oben gemachten Ausführungen auszugehen.

2. a) Die auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit des Festhaltens der Klägerin gerich- tete Klage ist als allgemeine Feststellungsklage nach § 43 VwGO statthaft und im Übri- gen zulässig. Nach den Ausführungen unter 1. steht der Klägerin das erforderliche qualifizierte Rechtsschutzinteresse an der begehrten Feststellung zu, das für beide Klagearten - die Fortsetzungsfeststellungsklage und die hier statthafte allgemeine Fest- stellungsklage - gleichermaßen, nach denselben Kriterien zu ermitteln ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 28.03.2012 - 6 C 12.11 -, juris, Rn. 15; Nds. OVG, Urt. v. 14.01.2020 - 11 LB 464/18 -, juris, Rn. 26).

b) Die Klage ist auch begründet. Das Festhalten der Klägerin kann nicht auf die allein in Betracht kommenden Vorschriften über den unmittelbaren Zwang nach §§ 64,65, 69, 70, 74 Nds. SOG gestützt werden, da es insoweit zur Durchsetzung an einer rechtmä-

Seite 15/18

ßigen Versammlungsbeschränkung gemäß § 8 Abs. 1 NVersG bzw. einer rechtmäßi- gen Anordnung nach § 10 NVersG fehlt. Auf die vorstehenden Ausführungen wird Be- zug genommen.

Soweit die Klage zurückgenommen wurde, beruht die Kostenentscheidung auf § 155 Abs. 2 VwGO; im Übrigen folgt diese aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

Gründe für die Zulassung der Berufung gemäß § 124 a Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Nr. 3 oder 4 VwGO durch das Verwaltungsgericht liegen nicht vor.

Rechtsmittelbelehrung

Seite 16/18

VRi´inVG XXX XXX XXX ist wegen Urlaubs an

der Unterschrift verhindert

XXX Seite 17/18

Beschluss

Der Wert des Streitgegenstandes wird gemäß § 52 Abs. 2 GKG auf

5.000,00 EUR festgesetzt.

Rechtsmittelbelehrung

Seite 18/18