Titel

VG Düsseldorf, Beschluss vom 16.11.2020, Az. 7 I 32/20


Durchsuchung um 04.30 Uhr wegen einer Abschiebung in der Regel unzulässig

 


Zitiervorschlag: VG Düsseldorf, Beschluss vom 16.11.2020, Az. 7 I 32/20, zitiert nach POR-RAV


Beschluss noch nicht rechtskräftig!
Letzte Bearbeitung: 23.02.2021, 22:05

Teaser

Bloße Organisationserwägungen der Ausländerbehörde rechtfertigen kein nächtliches Betreten oder gar Durchsuchen von Wohnungen des ausreisepflichtigen Ausländers.

Unvollständige Angaben oder Aufklärungsdefizite der Ausländerbehörde zum Sachverhalt machen einen Durchsuchungsantrag beim VG bereits unzulässig.

Leitsatz

1. Für die Anordnung einer Ergreifungsdurchsuchung ist das Verwaltungsgericht - und nicht die allgemeine Gerichtsbarkeit - zuständig.

2. Die Ausländerbehörde hat einen Durchsuchungsantrag einzelfallbezogen und tatsachenfundiert zu begründen. Bloße Bezugnahmen auf mit eingereichte Verwaltungsvorgänge (sog. Ausländerakten) oder Aktenteile genügen hierzu nicht.

3. Die Organisation einer Abschiebung ist Sache der Ausländerbehörde; die Abflugzeit einer von dieser gebuchten Maschine rechtfertigt keine Durchsuchung zur Nachtzeit.

4. Die Nachtzeit bezeichnet in Deutschland einheitlich den Zeitraum von 21:00 bis 6:00 Uhr. Das allgemeine vollstreckungsrechtliche Verbot der Vollstreckung in der Nachtzeit ist zu beachten. Begehrte Ausnahmen müssen unter Beachtung von Art. 13 Abs. 1 GG gerichtlich streng geprüft werden.

5. Entgegen dem noch geltenden § 104 Abs. 3 StPO endet die Nachtzeit rechtseinheitlich erst um 06.00 Uhr.

Volltext

TENOR

Der Antrag (= der Ausländerbehörde auf Gestattung einer Ergreifungsdurchsuchung) wird abgelehnt.

Die Antragstellerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

GRÜNDE

Der am 10. November 2020 bei Gericht sinngemäß gestellte Antrag,

- die Durchsuchung der Wohnung der Antragsgegner in der Dstr. 5 in E am Donnerstag den 00.00.2020 ab 4:30 Uhr zum Zwecke der Ergreifung im Rahmen der Abschiebung der Antragsgegner gerichtlich anzuordnen,

hat keinen Erfolg.

Zuständig für die Entscheidung ist gemäß § 5 Abs. 3 VwGO die Kammer, weil es sich nicht um eine Vollstreckung aus einem Titel gemäß § 169 Abs. 2 1. Halbsatz VwGO handelt, für die der Vorsitzende zuständig wäre,

- Vgl. VG Karlsruhe, Beschluss vom 10. Dezember 2019 - 3 K 7772/19 -, juris, Rn. 10.

Der Antrag begegnet schon durchgreifenden Bedenken gegen seine Zulässigkeit.

Allerdings ist der Verwaltungsrechtweg - mangels abdrängender Sonderzuweisung - gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO eröffnet, da Rechtsgrundlage und damit streitentscheidende Norm für den Erlass der begehrten Durchsuchungsanordnung Art. 13 Abs. 2 GG i.V.m. § 58 Abs. 6 und 8 AufenthG ist und insofern eine öffentlichrechtliche Streitigkeit nichtverfassungsrechtlicher Art vorliegt. Zu einer solchen Konstellation hat die 27. Kammer des Gerichts im Beschluss - 27 I 20/20 - vom 20. August 2020 ausgeführt:

"Die Streitigkeit ist nicht durch Bundesgesetz einem anderen Gericht ausdrücklich zugewiesen, § 40 Abs. 1 Satz 1, 2. Hs. VwGO. Insbesondere ist eine solche bundesrechtliche abdrängende Sonderzuweisung in Bezug auf die Anordnung der Durchsuchung zum Zweck der Durchführung der Abschiebung weder in § 106 Abs. 2 AufenthG noch in § 58 Abs. 10 AufenthG zu sehen.

Nach § 106 Abs. 2 AufenthG richtet sich das Verfahren bei Freiheitsentziehungen nach Buch 7 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Die damit für aufenthaltsrechtlich begründete Freiheitsentziehungen niedergelegte bundesrechtliche abdrängende Sonderzuweisung ist im Falle von Durchsuchungsanordnungen jedoch nicht einschlägig. Eine erweiterte Auslegung kommt nicht in Betracht und dürfte dem Ausdrücklichkeitsgebot des § 40 Abs. 1 Satz 1, 2. Hs. VwGO - auch unter Beachtung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts - nicht gerecht werden.

- Vgl. auch VG Arnsberg, Beschluss vom 11. November 2019 - 3 I 24/19 -, juris, Rn. 20 ff.; Schnell, NWVBl. 2020, S. 150 m.w.N.

Auch § 58 Abs. 10 AufenthG trifft keine abdrängende Sonderzuweisung im Sinne des § 40 Abs. 1 Satz 1, 2. Hs. VwGO. Nach dieser Vorschrift bleiben weitergehende Regelungen der Länder, die den Regelungsgehalt der § 58 Abs. 5 bis 9 AufenthG betreffen, unberührt. Ungeachtet der Frage, ob mit dieser Regelung dem Ausdrücklichkeitsgebot des § 40 Abs. 1 Satz 1, 2. Hs. VwGO Rechnung getragen würde, liegt bereits deshalb keine abdrängende Sonderzuweisung vor, da Regelungsgegenstand des § 58 Abs. 10 AufenthG allein weitergehende materiellrechtliche Regelungen der Länder sind.

- Vgl. Schnell, NWVBl. 2020, S. 150 (151).

Zwar ist der Wortlaut der Norm insofern offen gehalten, als sich "Regelungen" auch auf landesrechtliche Verfahrensregelungen beziehen könnten, die den für den Erlass einer Durchsuchungsanordnung einzuschlagenden Rechtsweg näher ausgestalten. Das Adjektiv "weitergehend" spricht jedoch bereits dafür, dass sich "weitergehende Regelungen" im Sinne der Norm auf weitergehende materiellrechtliche Befugnisse beziehen. Eine Bestätigung erfährt dieses Normverständnis durch die Entstehungsgeschichte. Die Vorschriften des § 58 Abs. 5 bis 10 AufenthG gehen auf eine Beschlussempfehlung des Ausschusses für Inneres und Heimat zurück. Nach deren Begründung werde durch den Satz "Weitergehende Regelungen der Länder, die den Regelungsgehalt der Absätze 5 bis 9 betreffen, bleiben unberührt" - mithin § 58 Abs. 10 AufenthG - geregelt, dass durch § 58 Abs. 5 bis 9 AufenthG bundeseinheitlich ein Mindestmaß für Betretens- und Durchsuchungsrechte bei Abschiebungen vorgegeben wird. Bestehende Regelungen der Länder, die "weitergehende Befugnisse" geben, gelten nach der Begründung fort, ohne dass hierzu ein Rechtsakt der Länder notwendig wäre.

- Vgl. VG Karlsruhe, Beschluss vom 10. Dezember 2019 - 3 K 7772/19 -, juris, Rn. 23; BT Drs. 19/10706, S. 14; a.A. zur Auslegung der "weitergehenden Regelungen" VG Arnsberg, Beschluss vom 11. November 2019 - 3 I 24/19 -, juris, Rn. 43.

Es liegt auch keine abdrängende Sonderzuweisung nach § 40 Abs. 1 Satz 2 VwGO vor. Nach dieser Vorschrift können öffentlichrechtliche Streitigkeiten auf dem Gebiet des Landesrechts einem anderen Gericht auch durch Landesgesetz zugewiesen werden. Es kann vorliegend offen bleiben, ob eine öffentlichrechtliche Streitigkeiten auf dem Gebiet des Landesrechts vorliegt, wenn Ermächtigungsgrundlage einer Durchsuchungsanordnung in Anwendung des § 58 Abs. 10 AufenthG eine weitergehende Regelung des Landesrechts ist und für diese eine abdrängende landesrechtliche Sonderzuweisung existiert (z.B. nach § 42 Abs. 1 Satz 2 PolG NRW in Verbindung mit § 24 Abs. 1Nr. 12 OBG NRW im Falle von Durchsuchungsanordnungen nach § 41 PolG in Verbindung mit § 24 Abs. 1 Nr. 12 OBG NRW). Denn § 41 PolG in Verbindung mit § 24 Abs. 1 Nr. 12 OBG NRW stellt jedenfalls für die vorliegend begehrte Durchsuchungsanordnung keine "weitergehende Regelung" im Sinne des § 58 Abs. 10 AufenthG dar. § 41 PolG in Verbindung mit § 24 Abs. 1 Nr. 12 OBG NRW ermöglichte die vorliegend begehrte Durchsuchung zur Durchführung einer Abschiebung nicht unter - gegenüber § 58 Abs. 6 AufenthG - erleichterten Voraussetzungen.

- Vgl. zur Auslegung des Merkmals weitergehender Regelungen VG Karlsruhe, Beschluss vom 10. Dezember 2019 - 3 K 7772/19 -, juris, Rn. 24; siehe ferner VG Gießen, Beschluss vom 26. November 2019 - 6 N 4595/19 -, juris, Rn. 2."

Dem folgt die 22. Kammer des Gerichts

Beschluss vom 6. Oktober 2020, - 22 I 28/20

und dem schließt sich auch die beschließende Kammer an.

Der Antragsteller ist hinsichtlich der begehrten Durchsuchungsanordnung auch antragsberechtigt, denn die Ausländerbehörde des Antragstellers ist die in Nordrhein- Westfalen nach § 71 Abs. 1 AufenthG i. V. m. §§ 1, 14 der Zuständigkeitsverordnung im Ausländerwesen (ZustAVO) die für die Abschiebung der Antragsgegner zuständige Behörde.

Der Antrag ist indes nicht formgerecht, weil er nicht alle notwendigen Angaben enthält. Der Verwaltungsgerichtsordnung lassen sich keine speziellen Verfahrens- oder Formvorschriften für Anträge auf Anordnung von Durchsuchungen nach § 58 Abs. 6 bis 8 AufenthG entnehmen. Die Vorschriften des 9. Abschnitts über Verfahren im ersten Rechtszug böten mit §§ 81, 82 VwGO Vorschriften zu Form und Inhalt verfahrenseröffnender Anträge. Jedoch mit den Regelungen zum Verfahren, bereits beginnend mit der Klagezustellung nach § 85 VwGO bis zur mündlichen Verhandlung (§ 101 VwGO), wird deutlich, dass diese Vorschriften den Zweck und Erfolg des Instrumentariums der Durchsuchungsanordnung konterkarierten und daher auch nicht analog anwendbar sind. Am ehesten ließen sich orientiert an Charakter und Zielrichtung wohl die Vorschriften zum Erlass einstweiliger Anordnungen nach § 123 Abs. 1 bis 4 VwGO heranziehen.

Dies kann jedoch letztlich offenbleiben, weil sich aus dem materiellen Recht die maßgeblichen Vorgaben ableiten lassen. Der präventive Richtervorbehalt des Art. 13 Abs. 2, 1. Halbsatz GG dient der Gewährung effektiven Grundrechtsschutzes in den Fällen des mit einer Durchsuchung verbundenen schwerwiegenden Eingriffs in das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung. Damit wird dem Einzelnen im Hinblick auf seine Menschenwürde und im Interesse der freien Entfaltung der Persönlichkeit ein elementarer Lebensraum gewährleistet (vgl. BVerfGE 42, 212). In seinen Wohnräumen hat er das Recht, in Ruhe gelassen zu werden (vgl. BVerfGE 27, 1; 51, 97). In diese grundrechtlich geschützte Lebenssphäre greift eine Durchsuchung schwerwiegend ein (vgl. BVerfGE 51, 97 ; 59, 95 ; 96, 27 ; 103, 142 ; BVerfGK 2, 310 ). Dem Gewicht dieses Eingriffs entspricht es, dass Art. 13 Abs. 2, 1. Hs. GG die Anordnung einer Durchsuchung grundsätzlich dem Richter vorbehält und damit auf eine vorbeugende Kontrolle der Maßnahme durch eine unabhängige und neutrale Instanz zielt.

Hinzu tritt der Gedanke effektiven Grundrechtsschutzes durch eine Verfahrensgestaltung, die darauf abzielt, strukturelle Rechtsschutzdefizite zumindest teilweise zu kompensieren. Bei Wohnungsdurchsuchungen, die ihren Zweck nicht erfüllen könnten, wenn der potentielle Betroffene vorher davon erführe und sich darauf einstellen könnte, werden vollendete Tatsachen geschaffen, ohne dass der betroffene Grundrechtsträger sich gerichtlich rechtzeitig zur Wehr setzen kann. Dieser Situation hat der Verfassungsgeber durch die Normierung des präventiven Richtervorbehalts in Art. 13 Abs. 2 GG Rechnung getragen. Demgemäß verlangt Art. 13 Abs. 1 GG eine umfassende richterliche Prüfung, bevor in das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung eingegriffen werden darf. Die richterliche Durchsuchungsanordnung darf keine bloße Formsache sein. Der Richter muss vielmehr dafür Sorge tragen, dass die sich aus der Verfassung und dem einfachen Recht ergebenden Voraussetzungen der Durchsuchung genau beachtet werden (vgl. BVerfGE 9, 89 ; 57, 346 ; BVerfGK 2, 310 ).

- Zum Vorstehenden vgl. BVerfG, Beschluss vom 16. Juni 2015, - 2 BvR 2718/10 u.a. - , juris Rz. 55ff.

Dieser Aufgabe können die Gerichte im Rahmen des § 58 Abs. 8 AufenthG nur gerecht werden, wenn die antragstellenden Ausländerbehörden diese Anträge schriftlich stellen und die zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit der beabsichtigten Maßnahme notwendigen Angaben enthalten sind.

- Vgl. insoweit die damit korrelierenden Dokumentationspflichten nach § 58 Abs. 9 Satz 4 AufenthG.

Bloße Bezugnahmen auf mit eingereichte Verwaltungsvorgänge (sog. Ausländerakten) oder Aktenteile genügen hierzu nicht. Vielmehr sind die betroffenen Personen, nicht nur die zu Ergreifenden, sondern auch die gegebenenfalls nicht personenidentischen Wohnungsinhaber oder Mitinhaber, soweit die Ausländerbehörde diese unter Nutzung des Melderegisters ermitteln konnte, konkret und vollständig zu benennen. Für die zu ergreifenden Personen müssen die Voraussetzungen der vollziehbaren Ausreisepflicht dargelegt sein, der von Amts wegen zu beachtende zwingende Duldungsgründe nicht entgegenstehen. Die Erforderlichkeit der Durchsuchung der Wohnung zum Zweck der Abschiebung ist durch über das Verstreichenlassen der Ausreisefrist hinausgehende Tatsachen - etwa die Willensbekundung nicht freiwillig ausreisen zu wollen - darzutun. Ferner muss sich dem Antrag entnehmen lassen, welche gegebenenfalls auch über die Wohn- und Nebenräume hinausgehenden Räume (§ 58 Abs. 5 Satz 2 AufenthG) von der Durchsuchungsanordnung umfasst sein sollen. Soll die Durchsuchung bei Dritten ("anderen Personen") vorgenommen werden, müssen die Tatsachen konkret benannt werden, aus denen zu schließen ist, dass der zu ergreifende Ausländer sich in den zu durchsuchenden Räumen befindet. Soll die Wohnung zur Nachtzeit betreten oder durchsucht werden, sind die Tatsachen zu benennen, aus denen zu schließen ist, dass die Ergreifung des Ausländers zum Zweck seiner Abschiebung anderenfalls vereitelt wird.

- Vgl. insoweit auch die Anforderungen an einen Antrag in Freiheitsentziehungssachen nach § 417Abs. 2 FamFG.

Diesen Anforderungen wird der vorliegende Antrag nicht gerecht. Es lässt sich dem Antrag nicht entnehmen, ob die zu durchsuchende Wohnung die alleinige Wohnung der Antragsgegner ist, oder ob in der unter der angegebenen Anschrift gelegenen Wohnung noch andere von der Abschiebung von vorneherein nicht betroffene Personen wohnen. Die Antragstellerin hat nicht unter Nutzung des Melderegisters im Rahmen der ihr obliegenden Sachverhaltsaufklärung ermittelt, wer der Inhaber der zu durchsuchenden Räume ist. Dem Inhaber der Wohnung ist nach § 58 Abs. 9 AufenthG das Recht auf Anwesenheit bei der Durchsuchung einzuräumen.

Der Antrag ist auch nicht begründet.

Rechtsgrundlage für die beantragte richterliche Durchsuchungsanordnung kann nur § 58 Abs. 6 und Abs. 8 Satz 1 AufenthG sein. § 58 Abs. 6 AufenthG bestimmt, dass die die Abschiebung durchführende Behörde eine Durchsuchung der Wohnung des abzuschiebenden Ausländers zu dem Zweck seiner Ergreifung vornehmen kann, soweit der Zweck der Durchführung der Abschiebung es erfordert (Satz 1). Bei anderen Personen sind Durchsuchungen zur Ergreifung des abzuschiebenden Ausländers nur zulässig, wenn Tatsachen vorliegen, aus denen zu schließen ist, dass der Ausländer sich in den zu durchsuchenden Räumen befindet (Satz 2).

Die Wohnung umfasst die Wohn- und Nebenräume, Arbeits-, Betriebs- und Geschäftsräume sowie anderes befriedetes Besitztum (§ 58 Abs. 6 Satz 3 i. V. m. Abs. 5 Satz 2 AufenthG). Zur Nachtzeit darf die Wohnung nur betreten oder durchsucht werden, wenn Tatsachen vorliegen, aus denen zu schließen ist, dass die Ergreifung des Ausländers zum Zweck seiner Abschiebung andernfalls vereitelt wird. Die Organisation der Abschiebung ist keine Tatsache im Sinne von Satz 1 (§ 58 Abs. 7 Satz 1 und 2 AufenthG). Gemäß § 58 Abs. 8 Satz 1 AufenthG dürfen Durchsuchungen nach § 58 Abs. 6 AufenthG nur durch den Richter, bei Gefahr im Verzug auch durch die die Abschiebung durchführende Behörde angeordnet werden.

Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt. Die vom Antragsteller konkret beantragte Durchsuchungsanordnung für den 00.00.2020 ab 4:30 Uhr betrifft eine Durchsuchung in der Nachtzeit, die unzulässig ist, weil kein dies rechtfertigender Ausnahmetatbestand vorliegt.

Die Nachtzeit bezeichnet in Deutschland einheitlich den Zeitraum von 21:00 bis 6:00 Uhr.

- BVerfG, Beschluss vom 12. März 2019, - 2 BvR 675/14 -, juris Rz. 58ff.

Spiegelbildlich liegt die Tageszeit ganzjährig zwischen 6:00 und 21:00 Uhr.

- BVerfG, a.a.O.

Das allgemeine vollstreckungsrechtliche Verbot der Vollstreckung in der Nachtzeit ist vielfach kodifiziert, etwa in § 785a Abs. 4 S. 2 ZPO, § 104 Abs. 1 StPO oder in § 16 Abs. 2 VwVG NRW. Soweit § 104 Abs. 3 StPO zur Bestimmung der Nachtzeit noch zwischen Sommer- und Wintermonaten differenzierend in der Sommerzeit (1.4. - 30.9.) die Nachtzeit auf den Zeitraum von 21:00 bis 4:00 Uhr bestimmt, ist diese Regelung nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 12. März 2019 nicht mehr anzuwenden.

- BVerfG, a.a.O. Rz. 63, a.A. noch Dollinger in Bergmann/Dienelt zu § 58 AufenthG Rz. 39.

Nach den heutigen Lebensgewohnheiten sind mindestens die Stunden zwischen 4:00 und 6:00 Uhr noch der Nachtzeit zuzurechnen. Die seit dem 1. Oktober 1879 unveränderte Regelung der Nachtzeit in der StPO geht auf die zu diesem Zeitpunkt noch überwiegend agrarischen Lebensverhältnisse der Gesellschaft zurück. Dies trägt der zwischenzeitlichen Veränderungen der soziokulturellen Verhältnisse und den modernen Lebensgewohnheiten nicht Rechnung. Sie ist insoweit nicht mehr zeitgemäß, als sie nicht berücksichtigt, dass die Tageszeit heute für den weit überwiegenden Teil der Bevölkerung auch zwischen April und September nicht schon um 4:00 Uhr morgens beginnt. Weil nach den heutigen Lebensgewohnheiten zumindest die Zeit zwischen 21:00 und 6:00 Uhr ganzjährig als Nachtzeit anzusehen ist, ist es auch von Verfassungs wegen geboten, dass sich der Schutz vor nächtlichen Wohnungsdurchsuchungen auch in den Monaten April bis September auf die Zeit von 4:00 bis 6:00 Uhr morgens erstreckt.

- BVerfG, a.a. Rz 63ff.

Nur zur Klarstellung sei darauf hingewiesen, dass der Begriff der Nachtruhe mit der Nachtzeit nicht identisch ist, sondern vom insoweit geregelten Kontext abhängt: vgl. § 9 Abs. 1 LImSchG: 22 - 6 Uhr; Betrieb von Rasentrimmern und Freischneidern erst ab 9:00 gem. § 7 Abs. 1 Nr. 2, 32.BImSchV; "Nachtzeit" von 23:00 bis 7:00 Uhr gem. § 2 Abs. 1 Bay. BiergartenVO; Richtlinie 2002/49/EG "Umgebungslärmrichtlinie" Anhang I zu Artikel 5: von 23:00 bis 7:00.

Die von der Antragstellerin für den Donnerstag den 00.00.2020 ab 4:30 beabsichtigte Wohnungsdurchsuchung soll mithin in der Nachtzeit beginnen und ist damit unzulässig.

Die beabsichtigte Durchsuchung und das Betreten der Wohnung der Antragsgegner ist auch nicht ausnahmsweise zulässig, weil keine Tatsachen vorliegen, aus denen zu schließen ist, dass die Ergreifung des Ausländers zum Zweck seiner Abschiebung anderenfalls vereitelt wird. Aus dem Wortlaut der Norm ergibt sich zunächst, dass die Ausländerbehörde sich auf Tatsachen stützen muss. Ein bloßer Verdacht, der Ausländer sei eher vor 6:00 Uhr in seiner Wohnung anzutreffen als danach, genügt nicht. Solche Tatsachen könnten etwa in einer Berufstätigkeit mit Schichtdienst oder allgemein besonders früh beginnender Tätigkeit (z.B. Bäckerei) des Ausländers liegen. Zum anderen müssen sich diese Tatsachen auf die Vereitelung der Ergreifung beziehen, d.h. aus den benannten Tatsachen muss sich ergeben, dass die Ergreifung voraussichtlich misslingen wird. Diesen Vorgaben genügt das Antragsvorbringen nicht. Die Antragstellerin macht geltend, die Durchsuchungsmaßnahme müsse um 4:30 Uhr beginnen, weil es sonst nicht möglich wäre das Flugzeug, mit dem die Abschiebung durchgeführt werden soll, rechtzeitig vor dem Abflug zu erreichen. Damit macht sie schon nicht geltend, die Ergreifung der Antragsgegner könne voraussichtlich nur zur Nachtzeit gelingen. Denn die Abflugzeiten der gebuchten Maschine haben mit den zeitlichen Möglichkeiten die Antragsgegner zu ergreifen, nichts zu tun. Vielmehr soll hier ein angeblicher Sachzwang "Abflugzeit" bemüht werden, um den verfassungsrechtlich gebotenen und einfachrechtlich gewährten Schutz vor Verletzung der Unverletzlichkeit der Wohnung zu umgehen. Dass dies nicht angängig ist, wird auch auf der Ebene des einfachen Rechts klargestellt. So ist es nach § 58 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ausgeschlossen, die Organisation der Abschiebung als Tatsache im Sinne des Satz 1 anzusehen. Bloße Organisationserwägungen rechtfertigen mithin kein nächtliches Betreten oder gar Durchsuchen von Wohnungen des abzuschiebenden Ausländers.

- Dollinger in Bergmann/Dienelt zu § 58 AufenthG Rz. 39

Die Ausländerbehörde wird also ihre Planungen der Abschiebewege und -mittel an diesen rechtlichen Vorgaben ausrichten müssen, und nicht umgekehrt. Soweit hiergegen vertreten wird, der Begriff der "Organisation" lege nahe, dass es hierbei nur um Umstände gehen könne, die die handelnde Ausländerbehörde auch organisieren könne, wozu Abflugzeiten von Flugzeugen nicht gehörten, geht dies fehl.

- So VG Trier, Beschluss vom 17. September 2019, - 11 N 4019/19 -, Beschlussabdruck S. 3.

Denn die Verantwortung für die Durchführung einer Abschiebung liegt bei der Ausländerbehörde. Sie bucht den Flug und legt damit den zeitlichen Rahmen für vorbereitende Maßnahmen fest. Selbst wenn - wie in Nordrhein-Westfalen gem. § 15Abs. 6 ZustAVO - die Aufgabe der Zentralen Flugabschiebung einer besonderen Stelle - hier der Zentralen Ausländerbehörde C - übertragen wird, beschränkt sich deren Aufgabe in der Unterstützung des Landes und der unteren Ausländerbehörden bei der Rückführung von Ausreisepflichtigen auf dem Luftweg. Weder die Verantwortung noch die Gestaltungsmöglichkeiten gehen insoweit über. Konkret ist es am 00.00.2020 auch gerichtsbekannt so, dass es durchaus Flüge von nordrheinwestfälischen oder angrenzenden Flugplätzen nach Tirana/Albanien gibt, die später am Tag starten und daher die Zuführung unter Einhaltung des Verbots der Durchsuchung zur Nachtzeit ermöglichten. Die Umdeutung der gesetzgeberischen Klarstellung im § 58 Abs. 7 Satz 2 AufenthG in ihr Gegenteil ist nicht angängig.

Die Antragstellerin kann ihr Begehren auch nicht auf den Gesichtspunkt der Gefahr im Verzug stützen. § 58 Abs. 8 Satz 1, 2. Alt. AufenthG eröffnet bei Gefahr im Verzug nur die Möglichkeit, dass die Behörde selbst anstatt des Richters die Durchsuchung anordnet. Eine (weitere) Ausnahmemöglichkeit vom Verbot der Wohnungsdurchsuchung in der Nachtzeit ist damit nicht verbunden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus der Anlage zum GKG, die keinen Gebührentatbestand für Verfahren nach § 58 Abs. 8 AufenthG aufweist.

Rechtsmittelbelehrung: