Titel

OLG Schleswig, Urteil vom 14.02.2006, Az. 4 LB 10/05
Blockadeaktionen sind Versammlungen i.S.d. Art. 8 GG. Art. 8 GG. Eine Auflösungsverfügung ist bei Ankettungsaktionen im Gleisbett nicht entbehrlich.

 


Zitiervorschlag: OLG Schleswig, Urteil vom 14.02.2006, Az. 4 LB 10/05, zitiert nach POR-RAV


Teaser

Der Bundegrenzschutz hatte mehreren Personen, die sich bei verschiedenen Aktionen an die Schienen gekettet hatten, Kostenbescheide geschickt, mit denen sie die Kosten für die Befreiung (Stundensätze und Gerätekosten) geltend machten. Dies war allerdings unzulässig, da Polizei und BGS vor Ort die Aktionen nicht als Versammlungen angesehen hatten und diese daher auch nicht aufgelöst hatten.

Leitsatz

1. Ein Kostenersatzanspruch gemäß § 19 Abs. 2 BGSG setzt die Rechtmäßigkeit der unmittelbaren Ausführung voraus. 2. Die Verwirklichung des Kommunikationsziels, durch Ankettaktionen Aufsehen zu erregen, wird im Rahmen des Art. 8 GG geschützt. Die mit der Blockade mehr oder weniger zwangsläufig verbundenen Verzögerungen der Transporte sind kein Selbstzweck. Sie dienen allein der Aufmerksamkeitserregung. Entsprechendes gilt für die Kosten der Transportsicherung. 3. Rechtsverletzende Blockadeaktionen demonstrativen Charakters unterfallen dem Schutzbereich des Art. 8 GG, auch wenn sie aufgrund von Rechtsgüterkollision beschränkt oder beendet werden können. 4. Zuständig für die Auflösungsverfügung ist die Landespolizei und nicht der BGS. 5. Die Auflösungsverfügung muss eindeutig und nicht missverständlich formuliert sein und für die Betroffenen erkennbar zum Ausdruck bringen, dass die Versammlung aufgelöst ist (BVerfG, Beschl. v. 26.10.2004, 1 BvR 726/01‚ NVwZ 2005, 80). Die Entfernungspflicht ist Rechtsfolge der Auflösung. Hinweise auf die Rechtswidrigkeit der Versammlung und die Entfernungspflicht können daher die Auflösung nicht ersetzen.

Volltext

TENOR:

Die Berufungen der Beklagten gegen die Urteile des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts - 3. Kammer - vom 22. Februar 2005 werden zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu vollstreckenden Kosten abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

GRÜNDE

Die Kläger wenden sich gegen die Heranziehung zu den Kosten der Räumung von Gleisanlagen durch den Bundesgrenzschutz.

Die Kläger nahmen am 03.03.1997 (Kläger zu 1) und Kläger zu 6)) in der Nähe der Ortschaft Dahlenburg, am 27.03.2001 (Klägerin zu 3)) im Bereich Hitzacker, am 27.03.2001 (Kläger zu 5)) in Höhe der Ortschaft Bavendorf, am 27./28.03.2001 (Kläger zu 1) und 4)) in der Nähe der Ortschaft Süschendorf und am 15.05.2001 (Kläger zu 2)) in Stade an BIockaden von Zügen teil, die abgebrannte bzw. wiederaufbereitete atomare Brennelemente transportierten (sogenannte Castor-Transporte). Sie ketteten sich in unterschiedlicher Weise an Gleisanlagen an und wurden vom Bundesgrenzschutz geborgen, damit die Transporte fortgesetzt werden konnten.

Das Grenzschutzpräsidium Nord zog die Kläger zu den Kosten der Aufwendungen der polizeilichen Maßnahmen heran, und zwar - mit Bescheiden vom 02.10.2001 (zugestellt am 09.10.2001) die Kläger zu 1) und 6) als Gesamtschuldner in Höhe von 3.309,05 DM, - mit Bescheid vom 19.12.2001 (zugestellt am 22.12.2001) die Klägerin zu 3) als Gesamtschuldnerin in Höhe von 2.348,33 DM, - mit Bescheid vom 01.10.2001 (zugestellt am 04.10.2001) den Kläger zu 5) in Höhe von 543,04 DM, - mit Bescheiden vom 30.08.2001 (zugestellt am 31.08.2001) die Kläger zu 1) und 4) als Gesamtschuldner in Höhe von 14.301,28 DM und - mit Bescheid vom 11.10.2001 (zugestellt am 16.10.2001) den Kläger zu 2) als Gesamtschuldner in Höhe von 3.256,47 DM.

Die Kläger erhoben rechtzeitig Widersprüche, die das Grenzschutzpräsidium Nord zurückwies.

Mit ihren innerhalb der Klagefrist erhobenen Klagen haben die Kläger im wesentlichen geltend gemacht:

Die Kläger zu 1), 3), 4) und 6):

Es habe sich bei den Blockaden, für die Polizei erkennbar, um Versammlungen gehandelt. Ihren Grundrechtsschutz verlören die Versammlungsteilnehmer erst durch die Auflösung der Versammlung. Dies gelte auch für verbotene Versammlungen. Eine Auflösung habe nicht stattgefunden. Der Bundesgrenzschutz sei auch nicht zuständig gewesen. Ein Rückgriff auf das allgemeine Polizeirecht sei daher nicht möglich. Dies gelte auch für die Heranziehung zu den Kosten der Maßnahmen. Es werde bestritten, dass sich die Kläger nicht selbst hätten befreien können. Aufforderungen seien nicht ergangen. Es handele sich um Kosten der Strafverfolgung, die die Kläger nicht zu tragen hätten. Nach § 19 Abs. 2 Satz 1 BGSG könnten nur Mehrkosten verlangt werden. Die Kostenansätze seien überhöht. Eine gesamtschuldnerische Haftung für die Kosten der Befreiung Anderer komme rechtlich nicht in Betracht.

Die Kläger zu 2) und 5):

Die Kläger hätten auch ohne den Einsatz von Gewalt befreit werden können. Es sei kein Anwendungsfall des § 19 Abs. 2 BGSG gegeben. Die Kosten seien überhöht. Eigenaufwendungen der Verwaltung könnten nur über Gebühren gedeckt werden. Insoweit fehle es an einer Rechtsgrundlage. Ein Erlass des Bundesinnenministers sei keine ausreichende Rechtsgrundlage. Die Heranziehung der Kläger sei ermessensfehlerhaft. Die ihnen unterstellte Absicht, hohe Kosten des Staates bei derartigen Transporten entstehen zu lassen, habe nicht bestanden. Den Klägern sei es um den Protest gegen die Transporte gegangen und sie hätten ihr Demonstrationsrecht wahrgenommen.

Die Kläger haben jeweils beantragt,

den an sie gerichteten Leistungsbescheid in der Fassung des Widerspruchbescheids aufzuheben.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte ist dem Vortrag der Kläger im Einzelnen entgegengetreten und hat sich insbesondere gegen die Auffassung der Kläger gewandt, dass die Blockadeaktionen unter dem Schutz des Art. 8 GG stünden. Art. 8 umfasse nicht das Recht, von Privaten die Überlassung ihrer Grundstücke ZU verlangen. Die Bahn AG sei nicht verpflichtet, Demonstrationen auf den Gleisen zu dulden. Nach den Regelungen der Eisenbahn- Bau und Betriebsordnung (EBO) sei das Betreten von Gleisen verboten. Diese Vorschriften schränkten in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise das Grundrecht der Versammlungsfreiheit ein. Es liege auch keine Friedlichkeit der Versammlungen vor. Den Störaktionen seien schwerwiegende Beschädigungen der Gleisanlagen vorausgegangen. Eine Versammlungsauflösung sei nicht erforderlich gewesen, weil die Kläger sich nicht aus eigenen Kräften hätten befreien können. Eine Aufforderung, den Ort zu verlassen, hätte aus eben diesem Grunde keinen Sinn gemacht. Der Bundesgrenzschutz sei im Einvernehmen mit der Landespolizei befugt gewesen, eine Versammlungsauflösung auszusprechen. Kosten i.S.d. § 19 Abs. 2 BGSG seien sämtliche Kosten, die durch die unmittelbare Ausführung entstanden seien. Die Auffassung, dass lediglich Mehrkosten zu ersetzen seien, finde im Gesetz keine Grundlage.

Das Verwaltungsgericht hat den Klagen auf Aufhebung der Leistungsbeschheide nebst Widerspruchsbescheiden durch Urteile vom 22.02.2005 stattgegeben.

Es ist der Auffassung gefolgt, dass wegen des Vorliegens von gemäß Art. 8 GG gestützten Versammlungen, die nicht aufgelöst worden seien, der Anwendungsbereich des BGSG nicht eröffnet sei.

Die Beklagte hat gegen die ihr am 03., 04. und 10. Mai 2005 zugestellten Urteile am 20. und 23.05.2005 die vom Verwaltungsgericht zugelassenen Berufungen eingelegt und am 04.07.2005 (Montag) rechtzeitig begründet.

Der Senat hat die Verfahren mit Beschluss vom 24.11.2005 zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.

Zur Begründung der Berufungen führt die Beklagte im wesentlichen aus:

Die Zielrichtung der an den Blockadeaktionen beteiligten Kläger sei über den Protest gegen die Transporte hinausgegangen. Es seien Vorrichtungen verwandt worden, durch die die Gleisanlagen beschädigt worden seien. Der Aufenthalt auf Bahngleisen sei eine Ordnungswidrigkeit. Die Beteiligten hätten riskiert, dass die Transportzüge nicht rechtzeitig zum Stehen kommen.

Hinsichtlich des Kläger zu 2) hebt die Beklagte hervor, dass außer dem Kläger und seinem Begleiter sich zum Zeitpunkt der Ankunft des Transportzuges an der Blockadestelle um 01.45 Uhr nur Polizeikräfte dort aufgehalten hätten. Die Aktion sei nicht zielorientiert auf eine öffentlich wirksame Meinungskundgabe gerichtet gewesen. Auch wenn später Pressevertreter hinzugekommen seien, sei es Hauptziel der Beteiligten gewesen, den Transport solange wie möglich aufzuhalten.

Selbst wenn man geschützte Versammlungen i.S.d. Art. 8 GG annehmen würde, bestünde kein Vorrang des Versammlungsrechts gegenüber dem BGSG, weil es nicht an einer Versammlungsauflösung mangele.

Wenn die Kläger von den Einsatzkräften des Bundesgrenzschutzes vor Beginn der technischen Arbeiten zur Befreiung darauf hingewiesen worden seien, dass die Aktionen rechtswidrig seien und sie befreit werden müssten, weil sie sich nicht entfernen könnten, sei damit unmissverständlich klargestellt, dass die Aktionen nicht unter dem Schutz des Grundrechts der Versammlungsfreiheit stünden und die Kläger sich an diesem Ort nicht aufhalten dürften. Nichts anderes geschehe bei einer ausdrücklichen Auflösungsverfügung.

Im übrigen seien die Kläger nicht in der Lage gewesen, den Ort zu verlassen. Sie hätten daher einer Auflösung nicht Folge leisten können. Das Erfordernis förmlicher Versammlungsauflösungen könne daher in den vorliegenden Fällen nicht angenommen werden, weil niemand von einem Hoheitsträger zu einem Tun verpflichtet werden könne, zu dem er nicht im Stande sei.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile des Verwaltungsgerichts vom 22.02.2005 aufzuheben und die Klagen abzuweisen.

Die Kläger beantragen,

die Berufungen zurückzuweisen.

Die Kläger verteidigen das erstinstanzllche Urteil. Insbesondere wenden sie sich gegen die Auffassung der Beklagten, das Blockadeinteresse übersteige das kommunikative Interesse der Kläger.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des übrigen Vorbringens der Beteiligten wird auf die eingereichten Schriftsätze und die Verwaltungsvorgänge der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Berufungen der Beklagten sind nicht begründet. Das Verwaltungsgericht hat den Klagen zu Recht stattgegeben. Die streitgegenständlichen Leistungsbescheide sind rechtswidrig und verletzen die Kläger in ihren Rechten.

Ein Kostenersatzanspruch gemäß § 19 Abs. 2 BGSG setzt die Rechtmäßigkeit der unmittelbaren Ausführung voraus (vgl. Rasch, § 5 a MEPoIG, Rdnr. 8 m.w.N.). Diese Voraussetzung ist nicht erfüllt.

Die Blockadeaktionen der Kläger waren Versammlungen i.S.d. Art. 8 GG. Art. 8 GG erlaubt Beschränkungen von Versammlungen unter freiem Himmel nur nach Maßgabe des Absatzes 2. Maßnahmen der Gefahrenabwehr gegen Versammlungen richten sich dementsprechend nach dem Versammlungsgesetz. Das Versammlungsgesetz geht als Spezialgesetz dem allgemeinen Polizeirecht vor. Ein auf allgemeines Polizeirecht gestützter Platzverweis und dessen Vollzug scheidet aus, solange sich eine Person in einer Versammlung befindet und sich auf die Versammlungsfreiheit berufen kann (siehe zusammenfassend BVerfG, Beschl. v. 26.10.2004 — 1 BvR 726/01 -‚ NVwZ 2005, 80).

Eine Versammlung i.S.d. Art. 8 GG ist eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung (BVerfG, Beschl. v. 12.07.2001 — BvQ 28/01 und 1 BvQ 30/01 -‚ NJW 2001, 2459; Beschl. v. 24.10.2001 — 1 BvR 1190/90 und 1 BvR 2173/93 -‚ NJW 2002, 1031; Beschl. v. 26.10.2004, a.a.O.). Geschützt sind auch solche Veranstaltungen, bei denen die Teilnehmer ihre Meinungen zusätzlich oder ausschließlich auf andere Weise als in verbaler Form, also auch z.B. in Form einer Sitzblockade, zum Ausdruck bringen (BVerfG, Beschl. v. 24.10.2001, a.a.O.).

Maßgebend aus dem Blickwinkel des Art. 8 GG ist der Kommunikationszweck, den die Versammlung verfolgt. Vom Selbstbestimmungsrecht der Grundrechtsträger ist auch die Entscheidung erfasst, was sie anstreben. Den Gerichten ist es verwehrt, das kommunikative Anliegen inhaltlich zu bewerten. Eine solche Bewertung verbietet sich, weil der Staat gegenüber der Grundrechtsbetätigung der Bürger auch im Interesse der Offenheit kommunikativer Prozesse inhaltsneutral bleiben muss (BVerfG, Beschl. v. 24.10.2001, a.a.O.).

Die Kläger wollten nach ihren übereinstimmenden Einlassungen mit den Blockaden Aufsehen erregen, um auf die Gefahren der Atomenergie aufmerksam zu machen und auf diese Weise am Prozess der öffentlichen Meinungsbildung teilhaben. Dies ist ihnen gelungen, wie die vorliegenden Presseberichte und die Funk- und Fernsehmeldungen belegen. Die Verwirklichung eines solchen Kommunikationsziels wird im Rahmen des Art. 8 GG geschützt (BVerfG, Beschl. v. 24.10.2001, a.a.O.).

Zweifel an dem kommunikativen Anliegen der Kläger hat der Senat nicht. Die Kläger sind Aktivisten der Organisation „Robin Wood“. „Robin Wood“ ist eine Umweltorganisation, die u.a. den Ausstieg aus der Atomenergie anstrebt und sich gegen sogenannte „Castortransporte“ wendet, weil sie die Behältersicherheit bezweifelt. Die mit der Blockade mehr oder weniger zwangsläufig verbundenen Verzögerungen der Transporte sind kein Selbstzweck. Sie dienen allein der Aufmerksamkeitserregung. Entsprechendes gilt für die Kosten der Transportsicherung. Es kann ohne weiteres unterstellt werden, dass sowohl Demonstranten als auch Blockierer Kostensteigerungen, die infolge ihrer Proteste und Aktionen entstehen, nicht nur billigend in Kauf nehmen, sondern auch begrüßen, weil dies die Wirtschaftlichkeit der Atomenergie berührt. Das kommunikative Anliegen der Blockierer wird dadurch aber nicht in Frage gestellt. Sinn und Zweck der Aktionen bleibt die Kundgabe des eigenen politischen Standpunktes und die Einflussnahme auf den Prozess der öffentlichen Meinungsbildung.

Dies gilt auch im Hinblick auf die nächtliche Blockadeaktion vom 15.05.2001 in Stade, an der der Kläger zu 2) teilgenommen hat, und die die Beklagte insbesondere nach Ort und Zeit nicht als zielführend, auf eine öffentliche Meinungskundgabe gerichtet ansieht. An dieser Aktion waren nicht nur die beiden angeketteten Personen, darunter der Kläger zu 2), beteiligt, sondern mindestens zwei weitere Helfer, die — nach den in den Verwaltungsvorgängen befindlichen Presseberichten — ebenfalls später abgeführt wurden. Dem Vorliegen einer Versammlung steht weiterhin nicht entgegen, dass die Angeketteten angegeben haben, Zweck der Aktion sei das Aufhalten des Castor-Transportzuges. Auch in diesem Fall war das kein Selbstzweck, was sich bereits aus den Angaben der Blockierer ergibt, sie handelten aus idealistischen Gründen in Verbindung mit Absichten der Umweltorganisation „Robin Wood“. Im übrigen war diese Aktion — wie auch die weiteren streitgegenständlichen Aktionen — nicht auf die Meinungskundgabe an ein anwesendes Publikum gerichtet, sondern sollte medienwirksam werden, um auf diese Weise eine breite Öffentlichkeit zu erreichen. Die zahlreich anwesenden Pressevertreter haben darüber berichtet. Ob die Blockierer die Pressevertreter zuvor unterrichtet haben oder auf Kenntnisnahme durch Ausschöpfung anderer Quellen vertrauten, mag dahinstehen.

Auch wenn es das Recht der Grundrechtsträger ist, selbst über Art und Umstände der Ausübung ihres Grundrechts zu bestimmen, wird allgemein verbotenes Verhalten nicht dadurch rechtmäßig, dass es gemeinsam mit anderen in Form einer Versammlung erfolgt. Art. 8 GG schafft insbesondere keinen Rechtfertigungsgrund für strafbares Verhalten. Kommt es zu Rechtsgüterkollisionen, ist das Selbstbestimmungsrecht der Grundrechtsträger durch Rechte anderer beschränkt (BVerfG, Beschl. v. 24.10.2001, a.a.O.). Dies bedeutet allerdings nicht, dass rechtsverletzende Blockadeaktionen demonstrativen Charakters von vornherein nicht dem Schutzbereich des Art. 8 GG unterfallen. Anderes gilt nur dann, wenn nicht die Kundgebung einer Meinung oder die Erregung öffentlicher Aufmerksamkeit für ein kommunikatives Anliegen, sondern die Durchsetzung eigener Interessen (siehe hierzu BVerfG, Beschl. v. 24.10.2001, a.a.O.) oder die Realisierung dessen, was zu missbilligen ist, im Vordergrund stehen. Versammlungsrechtlich steht gemäß § 15 Abs. 1 VersG die Möglichkeit, Rechtsgüterkollisionen durch Versammlungsrechtliche Auflagen auszuschließen und durch Modifikationen der Durchführung der Versammlung Rechnung zu tragen oder Versammlungen zu verbieten, wenn unmittelbar bevorstehende Gefahren nicht durch Auflagen oder durch sonstige, den Behörden obliegende Schutzmaßnahmen zugunsten der Versammlung abgewehrt werden können. Versammlungen können gemäß § 15 Abs. 3 VersG (früher Abs. 2) aufgelöst werden, wenn sie nicht angemeldet sind, oder die Voraussetzungen für ein Verbot gegeben sind. Verbotene Versammlungen sind aufzulösen (§ 15 Abs. 4, früher Abs. 3 VersG). Auch der Ausschluss einzelner Versammlungsmitglieder kommt in Betracht.

Art. 8 GG schützt die Freiheit kollektiver Meinungskundgabe bis zur Grenze der Unfriedlichkeit. Die Unfriedlichkeit wird in der Verfassung auf einer gleichen Stufe wie das Mitführen von Waffen behandelt. Unfriedlich ist eine Versammlung daher erst, wenn Handlungen von einiger Gefährlichkeit wie etwa aggressiver Ausschreitungen gegen Personen oder Sachen oder sonstige Gewalttätigkeiten stattfinden, nicht schon, wenn es zu Behinderungen Dritter kommt, seien diese auch gewollt und nicht nur in Kauf genommen (BVerfG, Beschl. v. 24.10.2001, a.a.O.).

Soweit die Kläger nicht nur Schottersteine beseitigt haben, um sich an die Gleise anzuketten, sondern darüber hinaus Betonquader in den Gleiskörper eingelassen haben, kann darin noch nicht eine aggressive Ausschreitung gegen Sachen im vorgenannten Sinne gesehen werden. Die Schwierigkeiten der Beseitigung der Betonquader bestanden in erster Linie deshalb, weil daran die Kläger angekettet waren. Eine nachhaltige Beschädigung des Gleiskörpers war mit der Einlassung der Betonquader nicht verbunden. Die Transportzüge konnten offenkundig nach Bergung der Personen die betroffenen Gleisabschnitte ohne weiteres passieren.

Unterfielen danach die Blockadeaktionen dem Schutzbereich des Art. 8 GG, bestand dieser Schutz bis zu einer wirksamen Auflösung fort (BVerfG, Beschl. v. 26.10.2004, a.a.O.). Eine Auflösung der Versammlungen im Sinne des Versammlungsrechts hat nicht stattgefunden.

Zuständig für die Entscheidung nach § 15 Abs. 3 VersG (früher Abs. 2) ist die Landespolizei im institutionellen Sinne. Das Versammlungsgesetz führen die Länder als eigene Angelegenheiten aus (Art. 84 Abs. 1 GG). Für eine subsidiäre Verfügungskompetenz des Bundesgrenzschutzes in den vorliegenden Fällen sind Anhaltspunkte nicht ersichtlich. Sie scheidet aus, wenn — wie jedenfalls bei der Blockadeaktion am 15.05.2001 — Landespolizei vor Ort war. Allein die Tatsache, dass gemeinsame Einsatzstäbe von Landespolizei und Bundesgrenzschutz eingerichtet wurden, genügt für eine Kompetenzzuweisung nicht.

Die Versammlungsauflösung ist ein Verwaltungsakt. Verbot und Auflösung einer Versammlung stellen die intensivsten Eingriffe in das Grundrecht des Art. 8 GG dar. Der Schutz der Versammlungsfreiheit erfordert, dass die Auflösungsverfügung, deren Nichtbefolgung nach § 26 VersG strafbewehrt ist, eindeutig und nicht missverständlich formuliert ist und für die Betroffenen erkennbar zum Ausdruck bringt, dass die Versammlung aufgelöst ist (BVerfG, Beschl. v. 26.10.2004, a.a.O.). Die Auflösung ist mithin keine bloße „Förmelei“. Eine wirksame Auflösungsverfügung nimmt der Versammlung den versammlungsrechtlichen Schutz. Die Entfernungspflicht ist Rechtsfolge der Auflösung. Auch ein Platzverweis nach Polizeirecht kommt erst nach Auflösung der Versammlung in Betracht (BVerfG, Beschl. v. 26.10.2004, a.a.O.). Erst wenn die Versammlungsteilnehmer ihrer Entfernungspflicht nicht genügen, sind Vollstreckungsmaßnahmen der Polizei zulässig.

In den vorliegenden Fällen ist weder aus den Verwaltungsvorgängen der Beklagten ersichtlich noch wird von der Beklagten vorgetragen, dass die Bundesgrenzschutzbeamten von dem Vorliegen von Versammlungen und demzufolge von der Notwendigkeit deren Auflösungen durch Erlass von entsprechenden Verfügungen ausgingen. Wie unter diesen Umständen eindeutige und für die Adressaten unmissverständliche Auflösungsverfügungen ergangen sein können, ist für den Senat nicht nachvollziehbar. Soweit die Beklagte mutmaßt, dass die Beteiligten von den Einsatzkräften des Bundesgrenzschutzes vor Beginn der technischen Arbeiten ihrer Befreiung darauf hingewiesen wurden, dass die Aktionen rechtswidrig seien und die Beteiligten mangels eigener Möglichkeiten, sich zu entfernen, von den technischen Einsatzkräften des Bundesgrenzschutzes befreit werden müssten, um den rechtswidrigen Zustand zu beenden, so dass den Beteiligten unmissverständlich klargemacht worden sei, dass ihre Aktionen nicht unter dem Schutz ihres Grundrechts der Versammlungsfreiheit stehe und sie sich an diesem Ort nicht aufhalten dürften, reicht dies — entgegen der Ansicht der Beklagten — für eine Versammlungsauflösung nicht aus. Die Ausführungen der Beklagten machen vielmehr deutlich, dass eine Auflösung nicht stattgefunden hat. Die Rechtswidrigkeit der Blockadeaktionen — woran der Senat keinen Zweifel hat — berechtigt zur Auflösung. Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung eröffnen der Versammlungspolizei das Ermessen, die Versammlung aufzulösen (§ 15 Abs. 3, früher Abs. 2 VersG). Selbst verbotene Versammlungen sind aufzulösen (§ 15 Abs. 4, früher Abs. 3 VersG). Die EntfernungspfIicht ist — wie bereits ausgeführt — Rechtsfolge der Auflösung. Hinweise auf die Rechtswidrigkeit der Versammlung und die Entfernungspflicht können daher die Auflösung nicht ersetzen. Unerheblich ist deshalb in diesem Zusammenhang auch, ob die Kläger einer Entfernungspflicht hätten nachkommen können. Die fehlende Möglichkeit der SeIbstbefreiung gewinnt erst nach Erlass der Auflösungsverfügung für polizeiliche Folgemaßnahmen Bedeutung bei bestehender Entfernungspflicht, macht die Auflösungsverfügung jedoch nicht entbehrlich. Eine konkludente Auflösung im Wege des Vollzugs ist aus den Gründen des verwaltungsgerichtlichen Urteils unzulässig (siehe hierzu OVG Berlin, Beschl. v. 17.12.2002 — 8 N 129/02 -‚ NVwZ-RR 2003, 896 m.w.N.).

Nach alledem sieht der Senat keinen weiteren Aufklärungsbedarf, zumal sich der Vortrag der Beklagten in Mutmaßungen erschöpft und keine konkreten Angaben über die Äußerungen der Bundesgrenzschutzbeamten vor Ort enthält, die die Annahme des Vorliegens von Auflösungsverfügungen rechtfertigen könnten.

Schließlich sind Adressaten der Versammlungsauflösung alle Versammlungsteilnehmer. An den Blockadeaktionen haben — ausweislich der vorliegenden Verwaltungsvorgänge — nicht nur die angeketteten Personen, sondern weitere Personen teilgenommen. Lediglich dem Verwaltungsvorgang betreffend die Blockadeaktion vom 27./28.03.2001 in der Nähe von Süschendorf lässt sich eine Teilnahme weiterer Personen mit Ausnahme der fünf Angeketteten nicht entnehmen. Jedenfalls ist in den Aufforderungen an einzelne Personen, den Versammlungsort zu verlassen bzw. in den nur an die angeketteten Personen gerichteten Erklärungen, sie würden von den technischen Einsatzkräften des Bundes-grenzschutzes befreit, um einen rechtswidrigen Zustand zu beenden, keine Auflösung der Versammlung als solche zu sehen (BVerfG, Beschl. v. 26.10.2004, a.a.O.).

Die Kläger sind auch nicht rechtswirksam von Versammlungen ausgeschlossen worden.

Der Ausschluss einzelner Versammlungsteilnehmer ist ein belastender Verwaltungsakt, durch den dem Betroffenen verboten wird, weiter an der Versammlung teilzunehmen. Auch die Ausschlussverfügung muss ebenso wie die Auflösung hinreichend bestimmt sein (BVerfG, Beschl. v. 26.10.2004, a.a.O.). Dem Versammlungsteilnehmer muss klar sein, dass er sich nicht mehr auf die Versammlungsfreiheit berufen kann und sich aus der Versammlung zu entfernen hat. Auch insoweit fehlen — aus den vorgenannten Gründen — Anhaltspunkte dafür, dass gegenüber den Klägern Ausschlussverfügungen ergangen sind, zumal die Bundesgrenzschutzbeamten nicht von dem Vorliegen von Versammlungen ausgegangen sind.

Ungeachtet dessen fehlt es an den Voraussetzungen für einen Versammlungsausschluss. Nach § 18 Abs. 3 VersG kann die Polizei Teilnehmer, die die Ordnung gröblich stören, von der Versammlung ausschließen. Darunter ist ein Verhalten zu verstehen, das eine schwere Beeinträchtigung des Verlaufs der Veranstaltung darstellt (siehe BVerfG, Beschl. v. 26.10.2004, a.a.O.). Die Kläger haben die Versammlung nicht gestört. Sie waren vielmehr Kern der Versammlung. Ihre Ankettung stand in Übereinstimmung mit dem Zweck der Versammlung.

Aus diesen Gründen ist die Bergung der Kläger auch nicht als sogenannte „Minusmaßnahme“ rechtmäßig. Auch die Zulässigkeit teilnehmerbezogene Realakte kann nur aus den Bestimmungen des Versammlungsgesetzes abgeleitet werden. Rechtswidrige Einzelaktionen von Teilnehmern können unterbunden werden, wenn der Versammlungszweck als solcher dadurch nicht in Frage gestellt wird. Ist jedoch der Kernbereich der Versammlung betroffen, kann nicht durch Minusmaßnahmen die Versammlung faktisch beendet und damit die Auflösung umgangen werden.

Versammlungsuntypische Gefahren, die das Erfordernis der Auflösung der Versammlung entfallen lassen könnten, lagen nicht vor. Zum einen haben die Kläger die Ankettaktionen gerade deshalb durchgeführt, um die Aufmerksamkeit der Presse zu erregen und eine breite Öffentlichkeit zu erreichen, zum anderen sind die Maßnahmen zur Befreiung der Kläger erst vorgenommen worden, als die Transportzüge bereits zum Stillstand gekommen waren. Konkrete Gefahrenlagen haben daher zu diesem Zeitpunkt nicht bestanden.

Schließlich ist die unmittelbare Ausführung keine vollstreckungsrechtliche Maßnahme, die trotz eines rechtswidrigen Grundverwaltungsaktes rechtmäßig sein kann. Wären rechtswidrige Auflösungsverfügungen ergangen, wären die Versammlungsteilnehmer gleichwohl verpflichtet gewesen, sich von den aufgelösten Versammlungen zu entfernen. Widersetzen sich die Versammlungsteilnehmer der Entfernungspflicht oder können sie dieser Pflicht nicht nachkommen, ist der Einsatz von Zwangsmitteln zulässig (BVerfG, Beschl. v. 01.12.1992 — 1 BvR 88, 576/91 -‚ BVerfGE 87, 399, 409). Vorliegend fehlt es — wie dargelegt — an Auflösungsverfügungen.

Nach alledem sind die angefochtenen Leistungsbescheide rechtswidrig.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Nebenentscheidungen zur vorläufigen Vollstreckbarkeit haben ihre Grundlage in § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 132 Abs. 2 VwGO) bestehen nicht.

Kommentar

Die Entscheidung betont den Sinn der Auflösungsverfügung, wie ihn auch schon das Bundesverfassungsgericht betont hat (BVerfG, Beschl. v. 26.10.2004 - 1 BvR 726/01 -‚ NVwZ 2005, 80). Der Senat hat sich dabei bewusst gegen die Rechtsauffassung des OLG Celle (Az. 22 W 88/05) gestellt, dessen Beschluss der kurz vor der Verhandlung erging, jedoch in der Verhandlung vorlag.

Zu den Kosten einer Ankettaktion vgl. auch das Urteil des LG Lüneburg vom 04.03.2003 (Az. 3078/02)