Titel

LG Lüneburg, Beschluss vom 18.06.2012, Az. 10 T 1/12
Castor 2010: Feldgewahrsam - Rechtswidrigkeit des Gewahrsams wegen Verstoßes gegen das Unverzüglichkeitsgebot

 


Zitiervorschlag: LG Lüneburg, Beschluss vom 18.06.2012, Az. 10 T 1/12, zitiert nach POR-RAV


Gericht:

Aktenzeichen:

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Teaser

Da keine nicht unverzüglich eine richterliche Entscheidung herbeigeführt wurde, war der Gewahrsam insgesamt rechtswidrig.

Leitsatz

Der Beschluss des Amtsgerichts Dannenberg vom 30.12.2011 (Az. 39 XIV 10/10) wird teilweise aufgehoben.

Es wird festgestellt, dass die Freiheitsentziehung des Betroffenen am 08.11.2010 rechtswidrig war.

Im Übrigen wird die sofortige Beschwerde zurückgewiesen.

Volltext

TENOR:

I. Der Beschluss des Amtsgerichts Dannenberg vom 30.12.2011 (Az. 39 XIV 10/10) wird teilweise aufgehoben. II. Es wird festgestellt, dass die Freiheitsentziehung des Betroffenen am 08.11.2010 rechtswidrig war. III. Im Übrigen wird die sofortige Beschwerde zurückgewiesen. IV. Die Kosten des erstinstanzlichen sowie des Beschwerdeverfahrens trägt die Lan­deskasse. Eine Auslagenerstattung findet nicht statt.

GRÜNDE

I.

In der Nacht vom 07. auf den 08.11.2010 wurde im Zuge von Protestaktionen gegen den Transport von Atommüll nach Gerieben im Landkreis Lüchow/ Dannenberg die Eisenbahnstrecke Lüneburg / Dannenberg in der Nähe der Gemeinde Harlingen von Demonstranten entgegen einem durch Allgemeinverfügung der Polizeidirektion Lüne­burg vom 23.10.2010 erlassenen Versammlungsverbot blockiert. Bei Temperaturen unterhalb des Gefrierpunktes setzten sich mehrere tausend Personen auf die Bahnglei­se, um die Durchfahrt eines mit Castorbehältern beladenen Güterzuges zu verhindern.

Unter diesen Demonstranten war auch der Betroffene. Einzelne Personen aus dieser Gruppe entfernten zudem Schottersteine aus dem Gleisbett. Nach dreifacher Aufforderung durch die Polizei gegen 01.40 Uhr verließen rund 1.800 Personen die Blockade und entfernten sich freiwillig. Die übrigen 1.217 Personen - unter ihnen der Betroffene - wurden vom Bahnkörper getragen, in einen nahegelegen Bereich auf offenem Feld mit einem Durchmesser von etwa 100 m verbracht, der durch Polizeifahrzeuge umstellt war, und dort in Gewahrsam genommen. Aufgrund der hohen Zahl von Demonstranten, welche die Bahngleise nicht freiwillig verließen, zog sich die Räumung der Bahnstrecke über Stunden hin. Als der Transportzug gegen 09.03 Uhr den Bereich Harlingen passiert hatte, wurden die eingeschlossenen Personen entlas­sen.

Eine vorhergehende richterliche Entscheidung über diese Maßnahme hatte die Polizei nicht herbeigeführt. Vielmehr war in einem „Kooperationsgespräch " mit einzel­nen Blockadeteilnehmern vereinbart worden, dass von keiner Person Personalien fest­gestellt werden sollten. Allerdings wurde gegen 02.30 Uhr innerhalb derE inschließung eine als „Bearbeiter" gekennzeichnete Anlaufstelle eingerichtet, in der in Gewahrsam genommene Personen freiwillig ihre Personalien angeben konnten und dann einem Richter vorgeführt werden sollten. Polizeibeamten, die im Inneren des Feldgewahrsams eingesetzt wurden, war dieses Verfahren nach dem Vortrag des weiteren Beteiligten zumindest teilweise bekannt. Durch Lautsprecherdurchsagen sei zudem auf die Bear­beitungsstelle hingewiesen worden.

Nachdem sich herausstellte, dass das Wegtragen der Demonstranten entgegen erster Einschätzungen länger dauerte, ordnete die Polizei gegen 05.32 Uhr an, die 3 Festgenommenen sukzessive in die Gefangenensammelstelle nach Lüchow zu verbrin­gen, und forderte Transportkräfte an. Der Transport verzögerte sich jedoch aufgrund von Straßenblockaden.

Innerhalb des Feldgewahrsams wurden Toiletten, Heißgetränke und warme De­cken zur Verfügung gestellt. Eine ärztliche Versorgung war gewährleistet.

Der Betroffene, der sich nach eigenen Angaben seit 02.10 Uhr in polizeilichem Gewahrsam befand, hatte nach seinen Angaben um 02.20 Uhr einen schriftlichen An­trag auf richterliche Überprüfung der Freiheitsentziehung gestellt, der um 03.54 Uhr beim Amtsgericht einging. Er konnte jedoch innerhalb des Feldgewahrsams nicht aus­ findig gemacht werden, um ihn vorzuführen.

Der Betroffene hat gegenüber dem Amtsgericht beantragt,

1. ihn unverzüglich aus dem Polizeigewahrsam zu entlassen, 2. ihn gegebenenfalls vor der richterlichen Entscheidung anzuhören, 3. gegebenenfalls auch nachträglich festzustellen, dass die Freiheitsentziehung dem Grunde und der Dauer nach rechtswidrig war 4. festzustellen, dass die Behandlung während des Gewahrsams, nämlich stun­denlanges Festhalten auf freiem Feld ohne Witterungsschutz, Verpflegung und sanitäre Einrichtungen bei Temperaturen unter 0° C, rechtswidrig war.

Das Amtsgericht hat durch Beschluss vom 30.12.2011, auf den wegen der weite­ren Einzelheiten Bezug genommen wird, die Anträge zu 1. und 2. für erledigt erklärt und die weiteren Anträge zurückgewiesen. Die lngewahrsamnahme sei dem Grunde nach zu Recht erfolgt. Sie sei auch nicht deshalb rechtswidrig, da keine richterliche Entschei­dung herbeigeführt worden sei. Von Versammlungsteilnehmern sei - dem Betroffenen zurechenbar - vereinbart worden, keine Personalien aufzunehmen. Zudem sei im Hin­blick auf die Masse der festgenommenen Personen zu erwarten gewesen, dass eine richterliche Entscheidung erst nach Wegfall des Grundes der Maßnahme ergehen werde. Die Behandlung während des Gewahrsams sei ausreichend gewesen. Gegen diesen Beschluss wendet sich der Betroffene mit seiner sofortigen Beschwerde vom 17.01.2012. Die Freiheitsentziehung sei rechtswidrig gewesen, da die gesetzlichen Voraussetzungen des § 18 Abs. 1 Nr. 2 Nds. SOG nicht vorgelegen hätten und der Betroffene nicht unverzüglich dem Richter vorgeführt worden sei. Zudem ver­stieße diese landesrechtliche Regelung gegen Art. 5 EMRK. Schließlich sei die Art und Weise der Freiheitsentziehung rechtswidrig gewesen. Es seien nur dünne Decken aus­ gegeben worden. Der Betroffene habe sehr gefroren. Die Versorgung mit warmen Ge­tränken sei nicht zu jeder Zeit gegeben gewesen.

II. Die sofortige Beschwerde, die sich nur gegen die Abweisung der Anträge zu 3. und 4. wendet, ist zulässig und teilweise begründet.

1. Es kann dahin stehen, ob der Betroffene dem Grunde nach zu Recht nach § 18 Abs. 1 Nr. 2 b) Nds. SOG in Gewahrsam genommen wurde und ob diese Regelung gegen höherrangiges Recht verstößt. Jedenfalls wurde unter Verstoß gegen § 19 Abs. 1 Nds. SOG nicht unverzüglich eine richterliche Entscheidung herbeigeführt, so dass der Gewahrsam insgesamt rechtswidrig war.

a) Grundsätzlich haben nach § 19 Abs. 1 Satz 1 Nds. SOG die Verwaltungsbehörden oder die Polizei unverzüglich eine richterliche Entscheidung über die Zulässigkeit und Fortdauer der Freiheitsentziehung zu beantragen. Eines Antrags des Betroffenen bedarf es nicht. Derartige Anträge der Polizei oder der Verwaltungsbehörden erfolgten hier - mit Ausnahme betreffend drei Jugendliche - zunächst nicht. Die um 05.32 Uhr angeord­nete sukzessive Vorführung erfolgte nicht mehr unverzüglich.

Zwar könnte diese Regelung insoweit disponibel sein, als einzelne Festgenomme­ ne sich mit dem Gewahrsam einverstanden erklären, da in diesem Fall schon dem Grunde nach keine Freiheitsentziehung vorliegt. Ein derartiges Einverständnis lag je­doch zumindest von dem Betroffenen nicht vor. Eine mögliche Vereinbarung einzelner Demonstranten mit der Polizei in „Koopera­tionsgesprächen" ist dem Betroffenen jedenfalls nicht zuzurechnen. Auf den Inhalt die­ser Gespräche kommt es daher nicht an.

Dass sich der Betroffene nicht bei der Bearbeitungsstelle gemeldet hat, um seine Vorführung vor den Richter zu beantragen, ist selbst dann nicht als konkludente Erklä­rung eines solchen Einverständnisses auszulegen, wenn ihm das von der Polizei vor­gesehene Verfahren durch Lautsprecherdurchsagen oder sonst bekannt war. Die Grün­de, aus denen er sich dort nichtgemeldet hat, sind deshalb unerheblich .

b) Es war bei Festnahme des Betroffenen gegen 02.10 Uhr auch nicht absehbar, dass eine richterliche Entscheidung erst nach Wegfall des Grundes der Maßnahme ergehen werde, so dass eine Antragstellung und Vorführung nicht ausnahmsweise nach § 19 Abs. 1 Satz 1 Nds. SOG entbehrlich war.

Diese Ausnahmeregelung setzt voraus, dass nach einer Prognoseentscheidung anzunehmen ist, dass die Herbeiführung einer richterlichen Entscheidung mehr Zeit in Anspruch nimmt, als die Freiheitsentziehung nach dem sachlichen Grund andauern wird. Zweifel allein befreien nicht von der Verpflichtung zur Antragstellung . Hier steht schon aufgrund der Masse der auf dem Gleiskörper befindlichen Demonstranten zur Überzeugung der Kammer fest, dass bereits zum Zeitpunkt der lngewahrsamnahme des Betroffenen absehbar war, dass die Räumung des Schienenbereiches noch eine geraume Zeit in Anspruch nehmen würde. Es war daher allenfalls zweifelhaft, ob eine richterliche Entscheidung rechtzeitig ergehen würde. Konkrete Anhaltspunkte, die eine gegenteilige Annahme gerechtfertigt hätten, bestanden nicht. Aufgrund der Masse der in Gewahrsam genommenen Personen war es zwar fern­liegend, dass auch nur ein nennenswerter Teil rechtzeitig dem Richter hätte vorgeführt werden können. Sofern der Betroffene sich nicht unter den ersten Vorzuführenden be­funden hätte, hätte eine richterliche Entscheidung daher nicht mehr zeitgerecht erfolgen können. Eine derartige hypothetische Betrachtung rechtfertigt das Absehen von einer Antragstellung und Vorführung jedoch nicht (vgl. auch OLG Celle, Beschluss vom 20.09.2007 - 22 W 28/07, sub. 3. b) bb)). Erst dann, wenn die Polizei mit einem ange­messenen Kräfteeinsatz mit dem Transport der Festgenommenen und deren Vorfüh­rung begonnen hätte, wären kapazitätsbedingte Verzögerungen der Vorführung gerade des Betroffenen unter Umständen aufgrund zwingender sachlicher Gründe hinzuneh­men. Dass der Polizei ein früherer Beginn des Abtransports und der Antragstellung und Vorführung unmöglich gewesen wären, ist weder dargetan noch sonst ersichtlich .

c) Aufgrund des Verstoßes gegen das Gebot der unverzüglichen Herbeiführung einer richterlichen Entscheidung war die lngewahrsamnahme insgesamt rechtswidrig (vgl. OLG Celle a.a.O.).

2. Die Rechtswidrigkeit der Behandlung während des Gewahrsams war demgegen­ über nicht festzustellen. Im Verfahren nach § 19 Abs. 2 Satz 1 Nds. SOG ist die Rechtswidrigkeit der lngewahrsamnahme zu überprüfen. Es ist demgegenüber nicht Aufgabe der ordentlichen Gerichte, jeden einzelnen mit der Freiheitsentziehung im Zu­sammenhang stehenden Umstand auf seine Rechtmäßigkeit oder gar auf seine Verein­barkeit mit Verwaltungsvorschriften wie der Polizeigewahrsamsordnung hin zu überprü­fen. Die Umstände der Unterbringung können allerdings dann Bedeutung für die Frage der Rechtmäßigkeit des polizeilichen Gewahrsams gewinnen, wenn aufgrund einer Gesamtschau der Umstände so schwerwiegende Verstöße gegen verfassungsrechtlich geschützte Grundwerte vorliegen, dass die Freiheitsentziehung trotz Vorliegens der allgemeinen Voraussetzungen des § 18 Nds. SOG unverhältnismäßig erscheint. Bloße Beschwernisse und Umbequemlichkeiten reichen hierfür nicht aus (OLG Celle NVwZ RR 2006, 254).

Derartige schwerwiegende Verstöße hat der Betroffene hier schon nicht hinrei­chend dargetan. Die Festsetzung unter freiem Himmel bei Minusgraden ist unter den gegebenen Umständen auch dann hinzunehmen, wenn - wie der Betroffene vorträgt - die von der Polizei ausgeteilten Decken nur dünn gewesen sein sollten. Jeder Demonst­rant wusste, dass in der fraglichen Novembernacht mit Kälte zu rechnen war und konn­te sich darauf einstellen. Der Betroffene hätte auch gefroren, wenn die Polizei die De­monstration einige Stunden geduldet hätte. Zudem hätte es dem Betroffenen freige­standen, sich auf die Aufforderung der Polizei von der Schienenstrecke zu entfernen, wie es ein Großteil der Demonstranten getan haben (vgl. zum Ganzen auch OLG Celle, Beschluss vom 25.10.2004 - 16W145/04 , juris Rn. 28 ff.).

Der Vortrag des Betroffenen in der Beschwerdebegründung, die Versorgung mit heißen Getränken sei nicht zu jeder Zeit gegeben gewesen, lässt nicht konkret erken­nen, inwieweit der Betroffene keine Getränke erhalten habe, impliziert jedoch, dass eine Versorgung mit Heißgetränken grundsätzlich ausreichend erfolgte. Auch der mit Schrift­satz vom 03.02.2011 erfolgte Vortrag, es seien etwa 15 Toiletten zur Verfügung gestellt worden, lässt schwerwiegende Verstöße gegen verfassungsrechtlich geschützte Grundwerte nicht erkennen.

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 131 Abs. 1 Nr. 1, § 30 Abs. 2 Satz 1 KostO. Da der Betroffene mit seinem wesentlichen Begehren Erfolg hat, war eine Aufteilung der Verfahrenskosten entsprechend dem Anteil des Obsiegens und Unterliegens nicht vorzunehmen.

Die Kammer hat gern. § 13a Abs. 1 Satz 2 FGG a.F. nach billigem Ermessen von der Anordnung einer Auslagenerstattung abgesehen. Nach dieser Vorschrift findet eine Auslagenerstattung nur im Ausnahmefall und nur dann statt, wenn dies der Billigkeit entspricht. Das bloße Unterliegen einer Partei ist hierfür noch kein hinreichender Grund.

Gegen eine Auslagenerstattung spricht vorliegend, dass die lngewahrsamnahme des Betroffenen zwar aufgrund der Verletzung des Gebots der Herbeiführung einer richterli­chen Entscheidung rechtswidrig war, der Betroffene seine lngewahrsamnahme jedoch durch die Teilnahme an einer verbotenen Versammlung und dadurch provoziert hatte, dass er sich trotz mehrfacher Aufforderung über einen Zeitraum von etwa einer halben Stunden hinweg nicht freiwillig entfernt hatte (vgl. zum Ganzen auch OLG Celle, Be­schluss vom 20.09.2007 - 22 W 28/07, sub. 3. c)).

Die weitere sofortige Beschwerde wird mangels grundsätzlicher Bedeutung der entscheidungserheblichen Rechtsfragen nicht zugelassen.