Titel

AG Gießen, Beschluss vom 09.01.2012, Az. 5607 Gs 501 Js 19090/11
Freiheitsentziehung zur ED-Behandlung muss sich auf das unbedingt notwendige Maß beschränken

 


Zitiervorschlag: AG Gießen, Beschluss vom 09.01.2012, Az. 5607 Gs 501 Js 19090/11, zitiert nach POR-RAV


Gericht:

Aktenzeichen:

Datum:


Teaser

Besteht ein Straftatverdacht, so darf die Polizei zwar eine ED-Maßnahme durchführen. Dies muss jedoch so zügig passieren, dass das Recht auf persönliche Freiheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG nicht über das notwendige Maß hinaus eingeschränkt wird.

Leitsatz

Eine Freiheitsentziehung zur erkennungsdienstlichen Behandlung hat sich auf das unbedingt notwendige Maß zu beschränken. Nicht hinnehmbar sind dagegen mehr als unbedeutende Zeiten des Leerlaufs, in denen aus nicht nachvollziehbaren Gründen oder gar sachfremden Erwägungen schlicht nichts geschieht, der Beschuldigte also bloß verwahrt wird. (nichtamtlich)

Volltext

TENOR:

In dem Ermittlungsverfahren gegen XXX wird festgestellt, dass das Festhalten des Beschuldigten am 16.7.2011 für einen Zeitraum von 2 1/2 Stunden rechtswidrig war.

GRÜNDE

Der Beschuldigte beantragte mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 23.7.2011 die Feststellung der Rechtswidrigkeit seiner Festnahme am 16.7.2011 in Gießen, hilfsweise, dass das weitere Festhalten nach der Beschuldigtenvernehmung rechtswidrig war, dass die Verweigerung der Kontaktaufnahme zu seinem Rechtsanwalt rechtswidrig war und dass seine körperliche Durchsuchung rechtswidrig war. Wegen der Einzelheiten der Begründung wird auf sein Antragsschreiben vom 23.7.2011 (Bl. 121f.) sowie die weiteren Stellungnahmen vom 14.9.2011 (Bl. 545f) und vom 6.12.2011 (Bl. 581) Bezug genommen.

Der Antrag ist teilweise begründet.

Am 16.7.2011 fand in Gießen eine Kundgebung der rechtsextremen Partei NPD statt, was wegen bereits angekündigter bzw. zu erwartender Gegendemonstrationen zu erhöhter Polizeipräsenz im Giessener Stadtgebiet führte. Kurz vor 14:00 Uhr erhielt die Polizei Kenntnis davon, dass es in der Licher Straße zu erheblichen Sachbeschädigungen gekommen war. Eine Gruppe von 15 bis 20 jüngeren Personen, die schwarz gekleidet und vermummt waren, hatte Scheiben einer Volksbank-Filiale eingeworfen und einen Automaten zerstört (Schaden ca. 150.000,-- Euro). Ferner war mittels eines präparierten Feuerlöschers die Fassade des Hauses der Landsmannschaft ,,Chattia“ bis zum Dach hin mit weißer Farbe besprüht worden; auch hier waren Fensterscheiben eingeworfen worden.

Im Rahmen von Fahndungsmaßnahmen im Bereich Licher Straße/Alter Friedhof fielen acht Personen auf, die aufgrund ihres Erscheinungsbildes (Alter, Körpergröße, Bekleidung) zu der gesuchten Tätergruppe gehören konnten. Sie wohnten, wie eine Kontrolle ergab, mehrheitlich in Frankfurt, einige von ihnen waren bereits wegen Landfriedensbruch, Sachbeschädigung und Verstößen gegen das Versammlungsgesetz auffällig geworden. Ein nachvollziehbarer Grund für ihre Anwesenheit in Tatortnähe, fernab von den Orten in Gießen, an denen die NPD Veranstaltung stattfand, war nicht erkennbar.

Nach Entlassung aus der Kontrolle wurden einzelne Personen weiter observiert. Eine von ihnen, der A, traf gegen 15:52 Uhr im Innenstadtbereich auf eine Gruppe weiterer Personen, zu denen auch der Beschuldigte gehörte. Man kannte sich offensichtlich; wie sich später herausstellte, wohnen der Beschuldigte und A unter gleicher Anschrift in Frankfurt am Main. Ferner stellte man fast, dass der zu der Gruppe gehörende B einen Beutel mit sich trug, der Farbanhaftungen in den Farben Weiß und Rosa aufwies. Letzteres war deshalb auffällig, weil bekannt war, dass am 22.6.2011 in Frankfurt am Main ein Polizeifahrzeug mit Farbe in eben jenem Farbton besprüht worden war. Die Beamten eröffneten daher den kontrollierten Personen, zu denen neben den bereits genannten noch die Herrn C und D gehörten, die Festnahme.

Aus den Stellungnahmen des Polizeipräsidiums Gießen vom 4.8.2011 (B1. 536f.) und vom 26.10.2011 (Bl. 574ff), auf die wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird, ergibt sich, dass die insgesamt fünf Festgenommenen um 17:25 Uhr zum Polizeipräsidium und 10 Minuten später zur Gefangenensammelstelle verbracht wurden. Es sollte eine erkennungsdienstlichen Behandlung durchgeführt werden, ferner eine Untersuchung der Bekleidung auf winzige weiße Farbspritzer, da man davon ausging, dass beim Versprühen der weißen Farbe auf das Gebäude der ,,Chattia" in der Nähe stehende Mittäter von, etwa durch Windbewegungen, herumfliegenden Farbpartikeln getroffen worden sein könnten, ebenso von kleinen Glassplittern der zerstörten Scheiben.

Schließlich wurden die Festgenommenen als Beschuldigte vernommen. Die fünf Vernehmungen dauerten nach dem Bericht von 18:17 bis 19:15 Uhr. Zwischen 19:00 Uhr und 20:30 Uhr wurden nach und nach die erkennungsdienstlichen Maßnahmen durchgeführt. Außerdem wurden vom Schuhwerk der Beschuldigten Abdrücke gefertigt, um sie mit einer um 19:50 Uhr am Tatort gesicherten Schuhspur zu vergleichen. Da sich hinsichtlich der Schuhspuren keine Übereinstimmung mit dem Schuhwerk der Festgenommenen ergab, wurden diese zwischen 22:35 und 22:50 Uhr entlassen, der Beschuldigte exakt um 22:47 Uhr.

Nach den getroffenen Feststellungen waren die Festnahme des Beschuldigten und seine Mitnahme zur Dienststelle rechtmäßig. Rechtsgrundlage war nicht § 127 Abs. 2 StPO, da Haftgründe nicht ersichtlich waren, sondern § 81b StPO. Gegen den Beschuldigten bestand ein wenn auch vager Anfangsverdacht. Um diesen zu erhärten, waren erkennungsdienstliche Maßnahmen und Untersuchungen von Kleidung und Schuhwerk noch am gleichen Tag erforderlich. Hätte man den Beschuldigten unmittelbar nach der Personalienfeststellung entlassen, so war, unterstellt, der Beschuldigte gehörte tatsächlich zu den Tätern, mit Beweismittelverlust zu rechnen.

Nicht erkennbar ist jedoch, aus welchen Gründen ein Festhalten des Beschuldigten für fast sieben Stunden erforderlich war.

Das Festhalten auf der Dienststelle ist, auch wenn es nicht mit dem Wegschließen in einer Gewahrsamszelle verbunden ist, ein Eingriff in das Grundrecht auf Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG, das nicht nur freiheitsentziehende, sondern auch freiheitsbeschränkende Maßnahmen umfasst. Wenn in § 81b StPO formuliert ist ,,soweit. .. notwendig“, so wird damit letztlich der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zum Ausdruck gebracht, dem als Grundsatz mit Verfassungsrang wie alle staatlichen Maßnahmen auch das Festhalten einer Person genügen muss. Letzteres hat sich mithin auf das in der konkreten Situation unbedingt notwendige Maß zu beschränken.

Dies kann freilich nicht dazu führen, dass die mit aufwändiger Ermittlungsarbeit beschäftigen Polizeibeamten nun auch noch in einer Art Minutenprotokoll Buch führen müssten, wann welche Maßnahme gegenüber welchem Beschuldigten durchgeführt wurde, um so einem später vielleicht erhobenen Einwand der Rechtswidrigkeit begegnen zu können. Unbedeutende Verzögerungen sind hinzunehmen, die Schwere des Tatvorwurfs und die Intensität des Verdachts bestimmen nicht nur, welche Ermittlungsmaßnahmen zu ergreifen sind, sondern auch deren zulässigerweise zu veranschlagende Dauer. So ist etwa die Zeit, die für Fahrten zur Dienststelle vergeht, ebenso hinzunehmen wie diejenige, die organisatorischen Fragen gewidmet werden muss.

Nicht hinnehmbar sind dagegen mehr als unbedeutende Zeiten des Leerlaufs, in denen aus nicht nachvollziehbaren Gründen oder gar sachfremden Erwägungen schlicht nichts geschieht, der Beschuldigte also bloß verwahrt wird.

In dieser Hinsicht sind die polizeilichen Stellungnahmen teils lückenhaft, teils widersprüchlich.

So ist aus den Stellungnahmen des Polizeipräsidiums nicht nachvollziehbar, was in dem Zeitraum zwischen der Festnahme des Beschuldigten A (nach Bl. 14 um 16:00 Uhr) und seiner Verbringung zum Polizeipräsidium (17:25 Uhr) veranlasst worden ist. Im Bericht vom 4.8.2011 heißt es dazu lediglich, es sei eine Durchsuchung der Festgenommenen erfolgt, um eventuell Beweismittel auffinden zu können. Allerdings kann dies allein nicht fast 1 1/2 Stunden gedauert haben.

Außerdem heißt es, im Widerspruch zum ersten Bericht, im Bericht vom 26.10.2011, mit der Durchsuchung nach Beweismitteln sei erst gegen 17:35 Uhr, nach Verbringung zu Gefangenensammelstelle, begonnen worden. Träfe dies zu, so wäre immerhin hinreichend erklärt, was in der Zeitspanne von gut 40 Minuten bis zum Beginn der Beschuldigtenvernehrnungen veranlasst wurde.

Nach den in den Akten befindlichen Protokollen (Bl. 72ff.) begannen die Beschuldigtenvernehmungen um 18:17 Uhr und endeten um 19:15 Uhr. Die Vernehmung des Beschuldigten A begann um 19:08 Uhr; der Zeitpunkt des Endes dieser Vernehmung ist nicht vermerkt. Die Dauer der einzelnen Vernehmungen schwankt zwischen 2 Minuten (D) und 14 Minuten (C). Es fällt allerdings auf, dass die fünf Festgenommenen von fünf verschiedenen Beamten vernommen wurden, so dass sich die Frage stellt, warum dies nicht zeitgleich erfolgen konnte. Es hätte dann mit der Vernehmung des Beschuldigten schon fast eine Stunde früher begonnen werden können, die Vernehmung aller Festgenommenen hätte dann nur ca. 15 Minuten gedauert, nicht annähernd eine Stunde.

Wenn sich schon fünf Beamte mit den Festgenommenen befassten, dann konnten auch die weitere Maßnahmen, nämlich die erkennungsdienstliche Behandlung, zumindest teilweise zeitgleich durchgeführt werden. Dies scheint wenigstens ansatzweise geschehen zu sein; die erkennungsdienstliche Behandlung begann um 19:00 Uhr, also noch vor Beendigung der letzten Vernehmung. Dass sie, für alle fünf davon Betroffenen, 1 1/2 Stunden dauerte, ist im Ergebnis nicht zu beanstanden, da nicht erkennbar ist, dass es in dieser Phase zu mehr als unbedeutenden Verzögerungen gekommen ist.

Hingegen ist nicht nachvollziehbar, welche nach 20:30 noch zu treffenden Maßnahmen ein Festhalten des Beschuldigten für weitere fast 2 1/2 Stunden rechtfertigen konnten. Allein das Anfertigen eines Abdrucks vom Schuhwerk des Beschuldigten und dessen Abgleich mit einer Tatortspur kann es nicht gewesen sein. Das Herstellen des Abdrucks kann nur wenige Minuten in Anspruch genommen haben, ebenso der Vergleich mit der gesicherten Tatortspur. Auch gab es keinen Grund, den Beschuldigten nach Anfertigung des Abdrucks noch auf der Dienststelle festzuhalten, da er, selbst wenn eine Übereinstimmung mit der Tatortspur festgestellt worden wäre, mangels Haftgründen zu entlassen war. Jedenfalls kann den Stellungnahmen des Polizeipräsidiums nichts entnommen werden, was ein derart langes Festhalten des Beschuldigten rechtfertigen könnte.

Bei einer zusammenfassenden Bewertung der Vorgänge im Hinblick auf das beanstandete Festhalten des Beschuldigten auf der Dienststelle steht das Gericht vor der Schwierigkeit, Schätzungen vornehmen zu müssen. Wie lange einzelne Maßnahmen tatsächlich gedauert haben bzw. wie lange sie dauern durften, ist im Einzelnen nicht bekannt und anhand des Akteninhalts nicht aufklärbar. Gewisse Verzögerungen, die sich durch Verbringen der Beschuldigten in ein Fahrzeug, die Fahrt zur Dienststelle oder die Klärung organisatorischer Fragen ergeben haben, sind, wie bereits ausgeführt, hinzunehmen. Jedoch kommt das Gericht unter Berücksichtigung der Schwere des Tatvorwurfs und der Intensität des Verdachtsgrads insgesamt zu dem Ergebnis, dass für den Zeitraum von 16:00 Uhr bis 17:25 Uhr eine Zeitspanne von einer Stunde und für den Zeitraum von 20:30 bis 22:47 Uhr eine Zeitspanne von 1 1/2 Stunden als nicht im Sinne des § 81b StPO notwendige Zeiten des Festhaltens beurteilt werden müssen, da nicht nachvollziehbar ist, welche Maßnahmen in diesen Zeiträumen getroffenen wurden. In diesem Umfang war daher dem Hilfsantrag des Beschuldigten stattzugeben.

Hingegen sind die weiteren Hilfsanträge des Beschuldigten zurückzuweisen.

Hinsichtlich der Behauptung des Beschuldigten, die Kontaktaufnahme mit seiner Verteidiger sei ihm verweigert worden, kann nicht festgestellt werden, ob der Beschuldigte entsprechende Wünsche tatsächlich vorgetragen hat. Keiner der hierzu angehörten Beamten weiß etwas hiervon, in keinem Protokoll ist ein entsprechendes Verlangen vermerkt.

Soweit die Art und Weise der Durchführung der körperlichen Untersuchung beanstandet wird, ist der Ermittlungsrichter am Amtsgericht nicht zuständig, da es sich nicht um eine Maßnahme nach der StPO, sondern um eine präventive Maßnahme gehandelt hat.

Kommentar

Zu den Freiheitsentziehungen aufgrund von StPO-Maßnahmen vergleiche auch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 08.03.2011, Az. 1 BvR 47/05